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Neu Tramm
Schein-Dorf voller Geheimnisse
1938-2006
Mit Beiträgen von
M. Huber,
K. Steinweg und E. Recksiek.
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Ein
Dorf mit schillernder Vergangenheit. Eine kurze Vergangenheit, denn
Neu Tramm ist nicht als wirkliches Dorf entstanden, sondern als
Scheindorf für geheimste militärische Zwecke in der NS-Zeit erbaut,
getarnt als alter wendischer Rundling und versteckt im Wald. Das große
Waldgelände mit vielen Einzelbauwerken auch außerhalb des "Rundlings"
mag noch manches Geheimnis bergen. |
Auch unter Amerikanern, Engländern, Bundeswehr, Bundesgrenzschutz
und Polizei wurde die Öffentlichkeit durch Absperrung und
Geheimhaltung ausgeschlossen. Gerüchte und Vermutungen regten immer
wieder die Fantasie an. |
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1938:
Beschlagnahme des Geländes durch die
Standortverwaltung Salzwedel zum Bau einer „Heeresmunitionsanstalt"
mit Unterkünften für 300 Personen. Aus Gründen der Tarnung in Form
eines Rundlingdorfes und versteckt im Wald.
1939:
Beginn der Bauarbeiten. Im September kommen ca.100
"dienstverpflichtete" Polen.
1941:
30 Luftwaffensoldaten beziehen die unbenutzte Anlage. |
Google-Blick
von oben. |
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1942:
Lager für beschlagnahmten französischen Schnaps, Cognac und Schaumwein. Die
Bauarbeiten werden gestoppt.
1943:
550 Russen und 270 Italiener werden als „Dienstverpflichtete" zum weiteren
Ausbau der Anlage interniert. Der Bahnanschluss nach Karwitz wird
fertig gestellt.
1944:
Im März beginnt die Montage der ersten Raketen (FI-103, V1 und A4-V2). 15
Soldaten und 50 Zivilisten fertigen ca. 240 Geschosse pro Monat, deren
Einzelteile aus dem ganzen Reich angeliefert werden.
Drei Fotos aus
www.luftarchiv.de |
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1945:
Montage der „V1-Reichenberg" unter Führung der „SS". Die
"Reichenberg-Geräte" waren für den zielgerichteten
"Selbstopferungs-Einsatz" vorgesehen, kamen aber wohl nicht mehr zum
Einsatz. |
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Zitat aus
www.luftarchiv.de:
"Die meisten Reichenberg-Geräte wurden wahrscheinlich in Neu Tramm bei
Dannenberg an der Elbe 1944/45 gefertigt bzw. montiert. Es wurden laut
Jochen Tarrach 54 Stück hergestellt. Praktisch alle fielen
unbeschädigt am 23. April 1945 der U.S. Army's 5th Armoured Division
in die Hände. Den größten Teil transportierte das amerikanische
Militär wohl zum Leidwesen der Engländer ab. Wie viel exakt, ist
unbekannt. Im Mai 1945 rückten bereits britische Truppen in Neu Tramm
ein, da es Teil der britischen Besatzungszone wurde." |
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Es gab eine
eigens gebaute Bahnlinie aus dem Produktionsgelände an Riekau vorbei
zum Bahnhof Karwitz (Thunpadel). Die Gleise wurden sehr bald nach dem
Krieg abgebaut.
Spurensuche: |
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Der Bahndamm ist in der Landschaft bei Riekau noch zu erkennen. |
Auf etwa 200 m Länge wurde der Kern des Dammes zur Sandgewinnung genutzt. |
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Auf diesem recht hohen und breiten Damm am Bahnhof Karwitz verlief das
Übergabegleis zur Bahnlinie Dannenberg-Uelzen. Der jetzige Baumbestand
ist schon entsprechend alt. Links im Bild liegen noch die Gleise der
stillgelegten Bahnlinie nach Uelzen. |
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Aus den Erinnerungen von
Hans Gehricke:
"Durch einen Zufall entdeckten die
Amerikaner die Muna Neu Tramm.
Sie waren auf einiges gefasst, aber
dass ihnen eine komplette Fertigung in die Hände fiel und noch dazu
unversehrt, das hätten sie
sich nicht träumen lassen. Alle
Typen der Muster V 1/ Fi 103 waren hier vorhanden! Der deutsche Major Hahn
übergab das Lager kampflos an die US-Amerikaner, die dieses Lager nun
auch als "geheim" einstuften.
Die Tarnung des "Modell-Dorfes"
Neu Tramm war für das 3. Reich
aufgegangen. Selbst die Anwohner hatten keine Informationen über dieses ehemalige
Geheimprojekt!
Da es eine Vereinbarung zwischen
den US-Amerikanern und den Briten über die Besatzungszonen gab,
schafften die Amerikaner diesen
"Schatz" umgehend in die USA.
Erst viele Jahre später wurden diese Erkenntnisse veröffentlicht.
Auch mein Schwiegervater, der 1944 Dienst als Flugmelder in Breselenz tat,
hatte von dieser Fabrik keine Ahnung." |
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Übergabe am 23. April 1945 durch Major Hahn. |
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1946 werden Jeeps
repariert, die aus ganz Europa als Kriegsschäden angeliefert werden.
Dazu schrieb uns Adolf Graeber:
"Ich habe als 16 jähriger
1945/46 bei den Engländern von Lüneburg aus in dem Werk in Neu Tramm
gearbeitet. Wir mussten die Einzelteile der V 1 zusammen bauen und
beschriften: To Air Ministerum London! Wir fuhren fast täglich von
Lüneburg mit einem Militär-Laster nach Neu Tramm. Auf der Rückfahrt
wurde oft Holz mit nach Lüneburg zum Flugplatz genommen!
Mit
freundlichen Grüßen Adolf Graeber" |
1949 ziehen die Briten ab. Alle Hallen, Bunker, Straßen und Schienen
werden abgerissen, nur der
"Rundling" und umliegende
Anlagen bleiben stehen.
1950 wohnen 468 Flüchtlinge in den Baracken von Neu Tramm. Ein
Kinderheim wird eingerichtet.
Verschiedene Firmen siedeln
sich auf dem Kasernengelände an. |
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Der Grenzschutz kommt (Januar
1952)
Seit vielen Monaten ging schon das Gerücht in Neu-Tramm um, dass der
Grenzschutz kommen sollte. Keiner wollte es recht glauben, bis
schließlich eine Versammlung stattfand. Sie kam zu dem Ergebnis:
Neu-Tramm muss geräumt werden. So kam es auch. Zuerst mussten die
Familien aus dem Wirtschaftsgebäude ausziehen. Sie zogen nach
Dannenberg in das große Fünfzig-Familien-haus. Nur Herr Crause als
Gastwirt durfte im Wirtschaftsgebäude wohnen bleiben. Aus den Baracken
zogen bis jetzt auch schon zwei Familien um. Große Autos mit vielen
Anhängern kamen, und starke Männer luden die Sachen auf. Wie werden
sich die Familien aus dem Barackenlager gefreut haben, als sie nach
vielen Jahren endlich wieder in Häusern wohnen konnten und dazu noch
in einer kleinen Stadt!
Jetzt müssen die Wohnungen zum großen Teil umgebaut werden. Wir warten
nun darauf, dass die erste Grenzschutzkolonne kommt. Bis zum April
sollen wahrscheinlich alle Steinhäuser und das Barackenlager geräumt
sein. Wer weiß, wie es noch wird?
(Karin Huber, 11 Jahre) |
Vor dem Einzug des BGS steht hier zwischen dem Gelände der Firma
Schmitz und dem Militär-gelände (heute Besucherparkplatz) noch kein
Zaun.
Der
Kaufladen zog am Anfang der 60er Jahre in die Schulbaracke. Die auf
dem Foto abgebildete Baracke wurde Wohnbaracke. |
Unsere Wohn und Schulbaracke (Mai
1952)
Es war schon lange vorher geplant, dass wir eine neue Schule bekommen
sollten. Am ersten April fingen die Arbeiter an. Erst wurde der
Bauplatz abgemessen, dann fingen die Hilfsarbeiter an zu schachten. Wo
der Keller hinkommen sollte, konnte man genau sehen, denn dort wurde
es tiefer geschachtet. Es dauerte nicht lange, die Baracke
aufzustellen. Am 19. April wurde das Dach gedeckt und am 23. war es
schon fertig. Ich fragte einen Bauarbeiter, ob ich mir den Bau einmal
von innen ansehen könnte. Da lagen lauter Bretter und Nägel umher.
Zwischen den Klassenzimmern war noch keine Wand, aber wo sie hinkommen
sollte, sah man, denn dort war es tiefer.
Als ich am 23. wieder zur Baracke ging, war schon eine Wand gezogen
und weiß angestrichen. Die Handwerker waren hauptsächlich draußen bei
der Arbeit. Es wurden noch mehr Fenster ausgesägt. Am übernächsten Tag
waren große Kieshaufen da. Der Kies wurde durch ein großes Sieb
geworfen.
Die Handwerker fingen am 26. April mit dem Schornsteinbau an. Die
Fensterrahmen wurden am 5. Mai ausgebessert. Weil die Baracke keine
schöne Farbe hatte, wurde sie am 12. Mai angestrichen. Die Maler
hatten da viel zu tun, aber weil es viele waren, dauerte es nicht
lange und sie waren schon am 14. fertig.
Als ich später wieder in die Baracke ging, war ich erstaunt, dass es
drinnen schon so schön war. Die Zimmer waren eingeteilt und die Wände
gestrichen, die elektrische Leitung gelegt und in manchen Zimmern war
der Fußboden aus Zement.
Nun werden wir bald einziehen können!
(Karin Huber, 12 Jahre)
Das Leben vor der Baracke. Ein seltenes Foto, denn eigentlich hatte
man andere Sorgen, als ans Fotografieren zu denken. Das sandige Gelände vor
der
Baracken wurde wenig später zu blühenden Gärten, in denen auch Obst
und Gemüse angebaut wurden. |
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Der Bruder
Michael Huber gibt uns eine anschauliche
Schilderung des Lebens in Neu Tramm:
" ... Im Jahr 1954 wurde ich dann geboren, da
wohnte meine Familie schon ein Jahr in der oberen Etage des
Schmitzschen Hauptgebäudes. Die Wohnung war toll und im Gegensatz zu
den Verhältnissen in den Baracken feudal: fließendes Wasser in der
Küche, Badewanne, Spültoilette und Telefon. Familie Schmitz hatte
sogar eine Zentralheizung.
Diese eklatanten "Standesunterschiede" sollten sich nachhaltig auf
mein gesamtes Leben auswirken, es war halt eine völlig künstliche
Situation von 'wir da oben' und 'ihr da unten', zumal viele der
Barackenbewohner auch
eine Anstellung in der Firma Schmitz fanden. |
Für mich sind diese fleißigen, herzlichen und
liebevollen Menschen unvergessen und ich habe sie zu "Helden" einiger
Erzählungen gemacht. Sie lehrten mich, dass materieller Wohlstand
nichts mit seelischer Größe, persönlicher Integrität und menschlicher
Würde zu tun hat. Sie gaben mir Geborgenheit - und wunderbare
Kinderjahre." |
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Der Russenfriedhof (1962) |
Eine Erzählung von Michael Huber
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Mitten im Wald, zwischen Tramm und Breselenz, lag hinter hohem,
rostigen Maschendraht ein Stück Land, eingegrenzt von einem morschen
Jägerzaun: der Russenfriedhof .
Friedhöfe hatten für uns Kinder immer etwas Gespenstisches, es gab
Trauerpferde, die die schwarzen, kutschenähnlichen Gefährte dorthin
zogen, gefolgt von einer Schlange weinender, gebeugter,
schwarzgekleideter Menschen, und kam man in seine Nähe, so sollte man
schweigen und die Toten nicht in ihrer Ruhe stören.
Der Russenfriedhof war anders, er war verwildert, einsam und
unbesucht.
Das Schaudern, das wir dennoch verspürten, lag an etwas anderem: in
unregelmäßigen Abständen waren nämlich uralt aussehende Männer, die
einmal zu den Familien des Dorfes gehört haben mussten, nach langer
Zeit wieder nach Hause gekommen.
Manchmal fürchteten sich die Frauen sogar davor, sie meinten, die
Gefangenschaft, gerade die russische, habe die Männer 'kaputtgemacht'.
Wir Kinder konnten mit dieser Beschreibung wenig anfangen und meinten
unter uns, dass die Heimkehrer sich eigentlich gar nicht von den
anderen Männern unterschieden, sie wären doch genauso 'heile'.
Auffällig war jedoch für uns, dass der Gesundheitszustand dieser Leute
äußerst schlecht war, es brauchte etwas Zeit, bevor sie zu arbeiten
anfingen, und ihre ernsten, ausgemergelten Gesichter flößten uns oft
Angst ein. Wenn wir nun an den Friedhof dachten, so wurde langsam die
Vorstellung von diesen Russen, grausamen, hässlichen und feindseligen
Ungeheuern, die man dort begraben hatte, immer furchterregender.
Es kam hinzu, dass sich die Gespräche der Erwachsenen häufig um ein
Land drehten, dass sie Ostzone nannten, und auch dort "mache der
Russe, was er wolle!", und man war sich darin einig, dass man es
eigentlich ganz gut habe und es aufwärts gehe hier bei uns, "drüben"
aber alles ganz furchtbar schlecht sei. |
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Der Friedhof lag am Rande eines
Gebiets, das zum BGS gehörte. Die Einheit GSA Küste hatte dort vier
Hundertschaften stationiert, und wir Kinder wurden mit den Grenzern
gut Freund. Der Zaun um das riesige Gelände hatte unzählige Löcher und
Lücken, wir trauten uns oft und sehr tief in das militärische Gelände
hinein. Man konnte dort auf asphaltierten Straßen (davon gab es sonst
nicht viele und wir fragten auch nie, warum es gerade dort welche gab)
hervorragend Rad- und Rollerfahren, es gab Pfifferlinge, fette Hennen,
Walderdbeeren und Hagebutten, die wir emsig einsammelten, um daheim
ein Lob oder besser noch einen Groschen zu bekommen, - aber vor allem
gab es dort in verwaisten Hallen und an den Schießständen die
messingfarbenen Patronenköpfe zu finden, die die Älteren, die dort
schon zur Schule gingen, in Dannenberg als Altmetall zu Geld machen
konnten.
Lange hielten wir die Sammelei allerdings meistens nicht durch, und es
war wohl bloßer Zufall, dass wir eines Tages den Hausmeister Zenk und
seine Frau (sie waren in der benachbarten Trikotagenfabrik von Josef
Schmitz beschäftigt, in der mein Vater Werkmeister war) mit prall
gefüllten Taschen voller Messingstücke im Wald überraschten.
Im Dorf redete man bald darüber, Familie Zenk wäre ständig unterwegs
gewesen „im Gelände“ und hätte sich von dem Erlös des „geklauten
Zeugs“ den teuren Fernseher gekauft, aber es sprach wohl eher Neid aus
diesen Worten, denn Zenks waren die ersten im Dorf, die ein solches
Gerät ihr eigen nennen konnten, aber die wären doch auch nur
Flüchtlinge, aus Stettin, und noch nicht einmal der Fabrikbesitzer
hätte eine Antenne auf dem Dach! Doch da ich ab und zu mal
Werbefernsehen, das Seepferdchen, bei ihnen sehen durfte, hielt ich
mich aus dieser Rederei lieber heraus.
Ab und zu fand man auch Patronen, die nicht gezündet hatten, auf die
war Helmfried, der abenteuerlustige Sohn des Fabrikanten, besonders
erpicht. Hatte er genug beisammen, öffnete er die Kapseln, schüttete
das Schießpulver auf einen Haufen, legte eine Lunte und ließ das ganze
in die Luft fliegen. Wir Jüngeren waren dankbare Zuschauer und er war
der Held des Tages - ein Wunder aber, dass niemandem jemals ein Haar
gekrümmt wurde.
Die Grenzer, wie wir die BGS-Leute nannten, waren nette Leute, bei
ihnen war immer etwas los. Sie marschierten zwar auch zackig, aber
meistens sangen und lachten sie. Mal zähmten sie einen riesenhaften
Raben (der es sich zu meinem Leidwesen einmal auf meiner Schulter
gemütlich machte), mal soll einer von ihnen versucht haben, des Nachts
bei der schönen Bürgermeistertochter Christa einzusteigen.
Vor allem aber hatten sie ein Kino. Einmal die Woche wurde in der
Kantine, die sonst wie ein richtiges Casino vom Ehepaar Dörnbrack,
später von Mussehls geführt wurde, ein Spielfilm gezeigt, z.B. "Unsere
tollen Tanten" mit Gus Backus und Vivi Bach oder "Der Zigeunerbaron"
mit Heidi Brühl und Carlos Thompson.
Die Dorfjugend, in Nietenhosen und engen Röcken gewandet, die
Fräuleins mit Stöckelschuhen bewaffnet, die Herren mit viel Brisk im
Haar, hielt, nachdem sie die Wache passiert hatte, Einzug." |
DRK-Kinderheim bis 1952
Offene Einfahrt bis 1952
Ansichtskarte nach 1952
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"Die Mischung von Militär und Filmwelt hatte
zur Folge, dass Jürgen Grönmeier, einer der netten, jungen Soldaten,
wenig später als „Neu-Trammer O.W. Fischer“ bezeichnet wurde.
Wir fühlten uns auf dem Gelände des BGS, das eigentlich Sperrgebiet
war, folglich wie zu Hause, und auch als Hansi Krok, den manche
halbstark nannten, uns einmal mit bedrohlichem Unterton sagte, hier
sei mal die V-1 gebaut worden, hielten wir das für Angeberei und
Bangemachen und fragten aus Rache nicht, was das eigentlich sei und
was er damit sagen wolle.
Der Russenfriedhof wurde für uns nach und nach auf dem Weg zur Schule
immer mehr zur Normalität, wir sahen uns die einfachen Holzkreuze von
Nahem an und versuchten, soweit wir des Lesens bereits mächtig waren,
die schwierigen Namen zu entziffern.
Merkwürdigerweise klappte das aber nicht, irgendwas war verkehrt mit
den Buchstaben. Und auch die Kreuze sahen anders aus, so schief die
eine Latte.
Irgendwann unterhielten wir uns darüber, dass unter der Erde
vielleicht genauso nette, junge Männer lagen wie die Grenzer, die uns
oft eine Bluna spendierten oder mit uns Quatsch machten. Die waren ja
auch Soldaten und hatten eine Uniform an, die manche sogar richtig
schick fanden.
Unsere Stimmung veränderte sich.
"Stell' Dir mal vor, Du müsstest hier weg!" dachte Sigrid eines Tages
laut, und ich fand allein die Vorstellung schon grauenvoll, das Dorf
irgendwann einmal hinter mir lassen zu müssen. Nein, das würde ich
niemals tun. Unsere Welt war damals an der Bundesstraße in Tramm zu
Ende, Schaafhausen war schon ein Gebiet, das man nur mit den Eltern
betrat.
Aber die Russen, wo die wohl ihr Zuhause hatten?
Wir ersannen schließlich Geschichten von den armen Soldaten, die hier
auf der anderen Seite der Welt gestorben, oder wie die Erwachsenen
immer sagten, gefallen seien: wir stellten uns vor, dass die Eltern
vielleicht noch immer auf sie warteten, denn schließlich hörte man im
Radio ja ständig vom Suchdienst, der den Sohn, den Bruder oder Vater
ausrief: „Hat ihn denn niemand mehr gesehen?“.
Auf dem Rückweg von der Schule in Breselenz pflückten wir dann
regelmäßig Blumen: Löwenzahn, Glockenblumen, Hahnenklee und
Margeriten, und legten sie vor die Kreuze. Jeder hatte „seinen“
eigenen toten Soldaten, dessen Namen wir noch nicht einmal entziffern
konnten.
Ganz im Stillen hatten wir uns von der Meinung der Erwachsenen über
die Russen entfernt, wir verrieten aber nichts, denn sie hätten uns
wahrscheinlich nur ausgeschimpft, weil wir durch den Zaun geschlüpft
waren und sie es doch schon so oft verboten hatten.
Ein langer Winter oder ein reparierter Zaun beendeten unser geheimes
Tun, ohne dass es uns so richtig bewusst geworden wäre. Wir hatten
jetzt die Pockenkuhle auf dem Weg nach Riekau entdeckt, und da konnte
man so herrliche Abenteuer erleben.
Nach fast 30 Jahren kam mir während eines Urlaubs im Wendland die Idee
- mein Dorf und auch die Stadt hatte ich längst freiwillig verlassen -
nachzusehen, was aus dem Russenfriedhof geworden sei. Alles, was ich
wusste, war, dass das ehemalige BGS-Gelände inzwischen von der
Bundeswehr genutzt würde. Und dass von dem Dorf nichts mehr übrig
geblieben sei. Alle waren in die Stadt gezogen. Und die Fabrik, der
Mittelpunkt meiner Kindheit, stand leer.
Und ich hatte jüngst in einem Buch gelesen, dass mein Dorf gar kein
richtiges Dorf gewesen war, sondern eine Art Kulissenrundling, von den
Nazis gebaut, um dort getarnt ihre Raketen zu bauen. Und es hätten
damals dort auch keine russischen Soldaten ihr Leben gelassen, sondern
verschleppte, zu Tode geschundene Zwangsarbeiter.
Ich ging nachdenklich und in Erinnerungen versunken den mittlerweile
fast zugewachsenen Stubbenberg, der schon lange nicht mehr durch
Kinderschuhe oder –fahrräder versandet war, hinunter und hatte größte
Mühe, den Ort unserer alten Patenschaft im Dickicht überhaupt zu
finden.
Doch da war er, unübersehbar: ein neuer Zaun, perfekt, sicher, mit
Stacheldraht bewehrt - keine Chance mehr zum Durchklettern.
Dahinter lag, friedlich wie eh und je, der Russenfriedhof. Die Gräber
waren sorgsam gepflegt, die Wege geharkt und das Unkraut gejätet, der
Jägerzaun repariert. Die Kornblumen, die ich unterwegs gepflückt
hatte, legte ich an den Zaun. Ich verweilte noch eine Weile und ging
dann zurück zum Auto. Ich fühlte mich gut."
Copyright Michael Huber
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Diese Fotos belegen die räumliche Nähe zwischen uns Zivilisten
und den Soldaten. Das große Backstein-gebäude im Hintergrund ist die 4. Hundertschaft des BGS. Man war dem Militär räumlich also wesentlich
enger verbunden als der Dorfgemeinschaft. |
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Das
Foto mit dem neuen Familienauto
von Hubers zeigt im Vordergrund das alte Hauptgebäude der Firma Schmitz
und im
Hintergrund den modernen Flachbau, der Pförtnerloge,
Buchhaltung und die Chefbüros beherbergte. |
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Der obigen Erzählung hat Herr Huber noch hinzugefügt:
"Im Jahre 1963 schloss die Schule in Neu Tramm,
die ich seit 1961 besucht hatte. Sie bestand zu meiner Zeit aus vier
Klassen mit insgesamt 14 SchülerInnen. Das Barackenlager leerte sich
langsam. Einige suchten ihr Glück in Nordrhein-Westfalen oder in
Baden-Württemberg. Die Zivilbeschäftigten des BGS zogen in die
sogenannten Grenzerhäuser in Dannenberg (Lüchower Straße, Kochstraße,
Gartower Straße), von wo aus sie per LKW zur Arbeit gefahren wurden -
später auch per Bus.
Ich ging noch von April 1963 bis Anfang 1964 in Breselenz zur Schule.
Der Schulweg war nach heutigen Maßstäben eine Katastrophe: Drei
Kilometer mitten durch den Wald auf sandigen Wegen, im Winter zu Fuß.
Als wir im Februar 1964 ebenfalls nach Dannenberg zogen, waren bereits
einige der Schulfreunde dort. Das Barackenlager wurde immer
verlassener und es wurde eine endgültige Lösung angestrebt. Der
Kaufladen und die Gastwirtschaft von Rudolf Runge wurden prächtig
neugebaut an der Bundesstraße in Tramm, heute heißt das Lokal
Landdrostei. Etliche der ehemaligen Barackenbewohnen bekamen günstige
Konditionen zum Neubau eines Eigenheims und es entstand in Tramm die
Siedlung "Am Berg".
Soweit ich mich erinnere, war 1965 das Barackenlager verlassen und
wurde dem Erdboden gleichgemacht. An der Stelle, an der seinerzeit die
Schule und das Bürgermeisteramt war, errichtete der BGS eine Art
Reihenhauskomplex mit Offizierswohnungen. Diese Gebäude stehen dort
noch und sind bewohnt. Auf dem Areal der Barackenwohnungen ist
heute ein Feld.
Dieses Neu Tramm war nicht nur wegen seiner NS-Geschichte ein
Phänomen. Auch wegen der Bewohner. Es ist so, als hätten die
ehemaligen Barackenleute das Stigma nie richtig verkraftet. Viele von
ihnen waren ja auch Flüchtlinge gewesen, die Ansehen und materielle
Werte verloren hatten und in Neu Tramm als ungeliebte Gäste unter
merkwürdigen Bedingungen leben mussten. Als ich als Erwachsener einige
wiedertraf, war es nicht möglich, ohne Vorbehalte in die gemeinsame
Vergangenheit zu schauen. (Obwohl meine Eltern offenbar sehr beliebt
gewesen waren).
Viele Neu-Trammer der ersten Stunde scheinen diese Lebensphase
verdrängen zu wollen, weil danach immer alles besser wurde. Es sind
nur eine kleine Handvoll Menschen, die Neu Tramm so positiv in
Erinnerung haben wie ich. Und sie sind in alle Winde verstreut.
Insofern freue ich mich, dass diese Website sich auch in dieser
Hinsicht gegen das Vergessen wendet."
(Eine Rückmeldung im Gästebuch) |
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1967 übernimmt die Bundeswehr die Kaserne. Ca. 300 Zeit- und
Berufssoldaten einer
Fernmeldeeinheit der Luftwaffe
werden stationiert, um von hier aus die Ostblock-Abhöranlagen
im Thurauer Turm zu betreiben.Zu dieser Einheit
gehörte Eberhard Recksiek, der als Wehrpflichtiger ein Jahr Dienst im
Thurauer Turm absolvierte. Er erinnert sich: |
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"Ich gehörte zu den Fernmeldesoldaten, die auf dem Turm in Thurau
Dienst taten, Unterkunft war in Neu Tramm. Unsere Stammeinheit war ein
Fernmeldebataillon in Rotenburg /Wümme. Ich wurde am 1.7.1969
eingezogen. Nach drei Monaten in Rotenburg ging es weiter zum Lehrgang
nach Feldafing am Starnberger See.
Unterrichtsthemen waren russisch und Telegraphie (Tastfunken). Wir
waren überwiegend Abiturienten. wer nicht bestand, fand als
Fernschreiber Verwendung. Weihnachten 1969 ging es dann nach Neu Tramm
und es folgte ein Jahr Einsatz auf dem Turm in Thurau. Wir als
Heeresfunker hatten im Antennenbereich oben im Turm nur eine Etage,
der Rest wurde von der Luftwaffe zu denselben Zwecken genutzt.
Als Wehrpflichtige hatten wir die Uher-Tonbandgeräte zu
bedienen, auf denen wir den abgehörten Sprechfunkverkehr der Roten
Armee speicherten. Die Botschaften waren überwiegend in Zahlenkolonnen
verschlüsselt und wurden über Fernschreiber an andere Einheiten zum
Entschlüsseln übermittelt. Ein Funker horchte den Richtfunk ab. Wenn
da wenig zu tun war, wurde auch schon mal in die Richtfunkstrecke
Berlin-Hamburg über den Höhbeck hineingehorcht. War recht amüsant.
Unsere Vorgesetzen waren überwiegend alte Feldwebel, die noch etliche
Jahre in russischer Gefangenschaft gesessen hatten und die Sprache
sehr gut kannten.
Der Dienst war angenehm, kein militärisches
Brimborium. Da wir Wechselschichtdienst hatten und nach der letzten
Schicht morgens in Urlaub entlassen wurden, hatten wir wenig Kontakt
ins Umland. Es ging meistens mit einem Kameraden im Auto nach Lüneburg
oder Uelzen und von da mit dem Zug nach hause (bei mir nach
Bielefeld). Wir saßen dann die ganze Fahrt mit einem Kaffee, mehr war
nicht drin, im leeren Speisewagen.
Beeindruckt haben mich die schöne, unzersiedelte Landschaft und die
tollen Namen der Dörfer: Salderatzen, Dommatzen, Waddeweitz usw.
Beeindruckend und einsam immer die Fahrt von Uelzen im Schienenbus bis
Dannenberg, von da zu Fuß entlang der Straße nach Neu Tramm. Im
Frühjahr freuten wir uns auf der Busfahrt von Neu Tramm nach Thurau an
den zahlreichen Storchenfamilien. Eigentlich schöne Erinnerungen.
Ihnen und dem schönen Wendland alles Gute." |
Der Turm steht etwa 20 km von Neu Tramm entfernt.
Unterkunftsgebäude für die Soldaten des Fernmeldesektors B.
Ebenfalls eines der Unterkunftsgebäude.
Einige Fotos sandte Herr Spornhauer, der etwas früher als Herr
Recksiek in derselben Einheit
stationiert war (1968/69). Ihm ist noch der Kantinenwirt in
Erinnerung, der oft diesen Spruch zum Besten gab:
"Kennst Du den Ort wo die Sonne nie lacht,
wo man aus Menschen Grenzer (Soldaten) macht,
wo man vergisst Moral und Tugend,
das ist Neu Tramm – das Grab meiner Jugend." |
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1974 Der Bundesgrenzschutz wird abgezogen.
1994 Die Bundeswehr gibt den Standort auf.
1997 Die rund 175 ha große Immobilie wird an die
WVG-Wendland
GmbH verkauft, die dort einen
Urlaubspark errichten will. Ein
Teil der Anlage wird langfristig an das Land Niedersachsen zur
jährlich kurzzeitigen
Nutzung (im
November) vermietet.
Ab 2001 besteht die Nutzung der leer stehenden Kaserne in der
Unterkunft für die Polizei und in der Funktion als Sammellager für
gefangene Gorlebendemonstranten (GESA) bei Castortransporten.
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Die Geschichte
hat noch einen Kontrapunkt, denn Neu Tramm liegt im Wendland:
Neben dem allzeit abgesperrten Areal gibt es weiterhin die privaten mit
Gebäude. Hier mietete
sich im Jahr 2000 der "Kulturverein Raum2 e.V." ein. Ein
weiteres Zentrum von Kreativität und politischer Kultur von unten -
eben Subkultur mit den Ideen für Morgen.
Kunst und Kultur haben sich an diesem historischen Ort auch mit der "KulturManufaktur"
eingefunden. Mit originellen Veranstaltungen und
Ausstellungen sorgen der Musiktreffpunkt "Raum 2" und die "KulturManufaktur" in den ehemaligen Fabrikräumen für eine Bereicherung der
wendländischen Kulturszene.
"Das Gelände ist anders als jeder andere Ort im Wendland, von dem
kulturelle Aktivitäten ausgehen. Mitunter werden Gerüchte von
verschütteten Geheimgängen laut, oder jemand hat den Eindruck, in den
Kellerräumen einem Geist zu begegnen." |
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Und wenn in den letzten Jahren nach erfolgtem Castortransport die
traumatisierten Gefangenen aus der alten Kaserne wieder vor das Tor
geschoben wurden, ohne Möglichkeit, Verkehrsmittel zu erreichen,
betreute der Kulturverein die Freigelassenen. |
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Noch etwas gehört
zu Neu Tramm. Man erreicht es auf gut ausgeschildertem Umweg um das
Sperrgebiet: Das in den letzten Jahren von Liebhabern umfangreich
ausgebaute und bestückte Feuerwehr-Museum. Vom ledernen Löscheimer
über Handdruckspritzen bis hin zu „modernen“ Löschfahrzeugen aus den
1960er Jahren.
Feuerwehr-Museum |
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In der Tour sind wir noch im Kapitel der NS-Zeit und versuchen, die
spärlichen Informationen über eine weitere Rüstungsfabrik zu sammeln.
Bevor in Neu Tramm die Rüstungsproduktion richtig anläuft, geht in
Dragahn eine noch größere "Kleine-Bomben-Fabrik" in Betrieb, die
ebenso geheim im Wald versteckt liegt.
Dragahn 1933-1945
Mehr zur
Kindheit in Neu Tramm in
den Sechzigerjahren |
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(Seite erstmals erstellt 2005) |
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