In Gorleben war zur Verteidigung des Ortes
eine deutsche Infanterieeinheit stationiert. Die Soldaten dieser Einheit
hatten sich westlich und südlich am Dorfrand, bewaffnet mit dem
Karabiner 98 k, dem Maschinengewehr 42 und der deutschen Panzerfaust,
eingeigelt.
Die Einsatzführung hatte ihre Zentrale im Gasthaus Steuber. Für uns als
Jungs war besonders interessant der Kradmelder, Unteroffizier Pölich,
mit der Beiwagenmaschine 750er Zündapp. Jede Möglichkeit zum Mitfahren
auf oder in dieser Maschine wurde genutzt und erlebt. Der Kradmelder war
in dieser Richtung immer sehr entgegenkommend. Jeder nächste Tag führte
uns zu der Beiwagenmaschine.
Vor dem 21. April gab es in einer Nacht auch einen Bombenangriff eines
feindlichen Flugzeugs. Im Ort richteten die Bomben keine Schäden an. Sie
schlugen am Rande des Friedhofs ein und hatten somit nur eine
Trichterwirkung.
Die Kampfhandlungen begannen am Samstag, den 21. April 1945. Unser Dorf
wurde durch US-Truppen aus Richtung Nemitz kommend gegen 8:00 Uhr
angegriffen. Es war eine Einheit, die auch mit Panzerfahrzeugen
ausgerüstet war. In der Stube unseres Hauses hatte sich ein Spähtrupp
der deutschen Einheit zur Ruhe begeben. Für mich und meinen Freund Horst
gab es trotz der zu hörenden Kampfgeräusche, Maschinengewehr- und
Einzelfeuer aus Langwaffen, nur den Kradmelder mit der Beiwagenmaschine.
Wir fanden Fahrer und Maschine vor dem Spritzenhaus. Die Maschine wollte
an diesem Morgen nicht anspringen. Wir haben geschoben und geschoben,
aber es nützte nichts. Auffällig war jetzt, dass die Schießgeräusche
näher kamen und Geschosse in unserer Nähe einschlugen. Wir hatten diese
Gefahr noch gar nicht so richtig erkannt, als der Landwirt Herr Schack
kam und uns sagte, wir müssten nach Hause gehen, der Amerikaner sei
schon im Dorf. Ich lief sofort nach Hause.
Vor unserer Haustür sah ich dann einen Sherman-Panzer stehen. Von dem
Lengemannschen Hof schoss ein deutscher Soldat mit seinem Karabiner
Richtung weißer Scheune auf unserem Grundstück. Starke Kampfgeräusche
laufendes Maschinengewehrfeuer und Einzelfeuer in schneller Reihenfolge
waren vermehrt zu hören. Ich lief schnell ins Haus. Die Angst, die ich
jetzt hatte, war überdeutlich. Meine Mutter und meine kleine Schwester
hatten hinter der Dielen-Küchentür, offensichtlich ebenfalls aus Angst,
Schutz gesucht.
In der Wohnstube lag noch der deutsche Spähtrupp. Die größte Angst
hierzu war, dass die Spähtrupp-Soldaten aus dem Haus heraus kämpfen
würden. Sie haben es aber zu unserem Schutz nicht getan und sich später
gefangen nehmen lassen.
Wir
warteten in der Küche auf ein Erscheinen der amerikanischen Soldaten.
Kurze Zeit später ging die Haustür auf und ein großer, dunkelheutiger
amerikanischer Soldat kam, bewaffnet mit einem Karabiner M1, ins Haus.
Er hatte den Auftrag nach deutschen Soldaten zu suchen und befragte uns
hierzu: „deutsche Soldat?“ In unserer Stube lag zu diesem Zeitpunkt
immer noch der deutsche Spähtrupp. Meine Schwester fragte hierauf den
amerikanischen Soldaten ob er „Zukelade“ habe? Ohne weitere Fragen zu
stellen, ging er aus dem Haus. Kurze Zeit später kam er mit einem
vollständigen Verpflegungspaket zurück.
Nach Anweisung meiner Mutter durften wir das Paket jedoch nicht öffnen.
Nach dem der Soldat das Haus wieder verlassen hatte, gingen auch die
deutschen Soldaten vor die Haustür und ergaben sich.
Die Kampfhandlungen waren noch in vollem Gange. Besonders Furcht
erregend waren die Abschüsse von dem in der Nähe des Hauses stehenden
Sherman-Panzer. Durch die Abschussdruckwelle gingen am Nachbarhaus
weitere Fensterscheiben zu Bruch.
Gegen Mittag mussten wir unser Haus verlassen und einen Erdbunker in der
Nähe des Sägewerks Gauster und des Nemitzer Weges aufsuchen. Hier in dem
Erdbunker wurde es erst richtig gefährlich. Am östlichen Ufer der Elbe
war deutsche Artillerie in Stellung gegangen. Diese beschossen mit einem
großen Kaliber die Zufahrtswege ins Dorf, um den Nachschub der
US-Truppen zu stören. Zu dem Nachschubweg gehörte auch der Nemitzer Weg,
an dem der Erdbunker lag. Man hörte den Abschuss der deutschen
Artillerie, ein Flugbahnheulen und dann den explodierenden Einschlag der
Granaten. Je näher die Einschläge lagen, je mehr Sand löste sich von der
Decke des Bunkers und fiel uns auf den Kopf. Weiter befürchteten wir,
dass der von außen gut getarnte Bunker von einem Panzer überrollt werden
könnte.
Nach
einiger Zeit mussten wir den Bunker dann wieder verlassen und den Saal
im Gasthof Steuber aufsuchen.Hier war schon ziemlich die gesamte
Bevölkerung des Ortes Gorleben untergebracht. Der Saal war überfüllt und
es gab nicht genügend Sitzgelegenheit. Einen Sicherheitssinn gab es für
diese Unterbringung nicht. Der Saal lag in der Nähe der Straße nach
Gedelitz, die ständig unter deutschem Artilleriefeuer lag. Diese Art der
unsinnigen und für die Bevölkerung strapazierenden Unterbringung dauerte
zwei Tage. Wir mussten dann das Dorf verlassen und marschierten über
Nemitz nach Lanze. Am 7. Mai durfte die Bevölkerung nach Gorleben
zurückkehren.
Die Rückkehr nach Gorleben am 7. Mai 1945
Einige Häuser waren durch deutsche Artillerie und amerikanische
Panzergranaten beschädigt und zerstört worden. Unser Wohnhaus war
unbeschädigt, jedoch sah es innen arg aus. Die meisten Bekleidungsstücke
waren aus den Schränken herausgerissen und teilweise mitgenommen worden.
Einige Möbelstücke standen vor der Haustür und waren beschädigt. Ganz
schlimm sah es in der Diele und in der Küche aus. Die Fußböden dieser
Räume waren mit einer dicken Schlammschicht bedeckt. Erklärend und
sichtbar war hierzu, dass die in der Küche befindliche Pumpe zur
Wasserversorgung nach außen genutzt worden war.
Viele deutsche Soldaten und Flüchtlinge, die
vorher östlich der Elbe waren, sind während unserer Abwesenheit durch
Gorleben geströmt. Sie wollten der russischen Kriegsgefangenschaft
entgehen.
Zum Zustand unseres Wohnhauses war meine Mutter ziemlich verzweifelt und
am Ende ihrer Kräfte. Sie wollte erst gar nicht anfangen mit Aufräumen
und Wiederherstellen der Wohnverhältnisse. Der erste Weg der Mutter war
jedoch, nach unserem Vieh zu sehen. Hühner waren keine mehr da.
Unsere
Ziege fand sie auf einer Wiese im Dorf unter anderen Tieren. Die
Milchversorgung war erst einmal gesichert und Gemüse in den Gärten gab
es zu dieser Jahreszeit auch schon und Kartoffeln aus der alten Miete.
Für uns als Kinder war natürlich die Lust zum Strömern durch das Dorf
gegeben. Es lag Vieles herum. Besonders wichtig war für uns Jungs der
Bereich an der Elbe. Wir fanden Waffen und Granaten aller Art, die wir
auch ausprobierten. Es passierte glücklicherweise wenig. Wir hatten wohl
alle einen besonderen Schutzengel.
Den ersten Kontakt hatten wir mit russischen Soldaten, die mit Duldung
der Amerikaner über die Elbe ins Dorf kamen. Die meiste Angst hatten wir
durch die Schauergeschichten, die die Erwachsenen über die Russen
erzählten. Eine weite Distanz war somit vorgegeben.
Das wohl gefährlichste Erlebnis, das wir hatten, war ein Beschuss durch
einen russischen, offensichtlich betrunkenen Soldaten mit seiner
Maschinenpistole von der anderen Elbseite. Wir hatten ihn vorher verbal
geärgert. Die Entfernung schien uns ja sicher! Die Einschläge der
Geschosse aus seiner MP haben wir sichtbar im Ufersand wahrgenommen.
Nach Anweisung des größten und ältesten Jungen, Günther Wehling, sind
wir dann 500 m bis zum Deich der Elbe gerobbt.
Der nächste Sichtkontakt diesseits der Elbe mit
einem russischen Soldaten ließ nicht lange auf sich warten. Er versuchte
ein Wehrmachtsmotorrad zu starten, was ihm jedoch nicht gelang. Wir
lagen im hohen Gras in Deckung, um nicht gesehen zu werden. Der Russe
warf dann wütend und fluchend das Motorrad ins Gras und ging zu einem
Ruderboot, das an der Elbe lag. Erst als er auch hier mit dem Boot weit
auf der Elbe war, liefen wir zum Motorrad und stellten es für andere
unerreichbar sicher. Das Motorrad konnte ja auch nicht anspringen, weil
kein Benzin im Tank war. Aber für uns kein Problem. Benzin konnte
besorgt werden. Somit hatten wir Jungs ein Motorrad, mit dem für uns
alle die ersten Fahrstunden erfolgreich absolviert wurden.
Mit meinem Freund Horst machten wir uns auch
Gedanken über den Verbleib der Beiwagenmaschine des Kradmelders und
seiner Person. Traurigerweise fanden wir in der Nähe der Kapelle seine
Wehrmachtspapiere und mit Blut durchtränktes Verbandszeug. Wir wünschen
und hoffen, dass er die Verletzungen überstanden hat.
Anfang Mai wurde von den amerikanischen Truppen
ein großes Kriegsgefangenenlager am Waldrand des Dorfes errichtet.
Genutzt wurden auch die Baracke des Arbeitsdienstlagers. Das
Gefangenenlager wurde später von englischen Truppen bis August 1945
weitergeführt. Zu diesem Lager war in unserer Diele das Versorgungsbüro
und in der weißen Scheune auf dem Hof ein Versorgungslager eingerichtet
worden. Das Grundstück war zur Dorfstraße hin mit einem Schlagbaum zur
Kontrolle von Fahrzeugen abgesichert.
So meine Erinnerungen nach 60 Jahren.
Arnold Jacobs
Brunsbütt im August 2005
Protokolle über dieses Gefangenlager konnten
leider nicht im Nationalarchiv Richmont bei London ausfindig gemacht
werden. In dem Protokoll des 335. US-Regiments vom Mai 1945 wird das
Gefangenenlager Gorleben erwähnt. |