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1939
bis 1945 in Grabow im Wendland
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Ernst und Lina sind es gewohnt, sich aus politischen Diskussionen
rauszuhalten. Sie geben sich als Geschäftsleute im weitgehend braunen
Grabow neutral. Aus einigen Dokumenten geht hervor, dass Ernst sich manches
Mal kritisch äußert und er wird später von der englischen Besatzung als
Nicht-Nazi eingestuft und zum Grabower Bürgermeister ernannt. Aber von
seinem Haus geht kein Widerstand aus und es ist auch nichts belegt über
eine andeutungsweise Solidarität mit den wenigen doch vorhandenen Kritikern
wie dem Bürgermeister von Woltersdorf, der auf Grund privater Äußerungen
hingerichtet wird. Solche Terrormaßnahmen erreichen ihren Zweck. Man
schweigt und hält sich raus.
Und die Jugend verfällt der Propaganda. Dazu gehört auch die Tochter
Lydia.
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Als 11 jährige Schülerin hatte Lydia die Zerstörung eines Geschäftes in der
Kristallnacht in Lüchow gesehen. Sie war zu jung, um das Schweigen der Umwelt richtig zu
interpretieren.
Die BDM-Führerin Lydia erzählt:
"Ich vergaß die Sache bald.
Ich glaubte weiter, was Hitler befahl, sei für unser aller
Wohl das Richtige.
Ich machte meinen BDM-Dienst und führte eine Gruppe
in Breselenz.
Für mich war der "Bund Deutscher Mädchen" (BDM) eine gute Sache. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe,
die ich leiten durfte, brachten mir Anerkennung und gaben mir
Selbstsicherheit.
Irgendwie fanden die Leute, die für Hitler waren, eine
Berechtigung für das, was er anordnete und die anderen, wozu mein
Vater gehörte, mahnten zum Stillschweigen, sonst käme man ins KZ.
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"Meine Schwester Elfriede erlebte 1938 die Kristallnacht in Hamburg. Als
sie morgens zur Arbeit ging, war sie so erbost über die Zerstörungen, dass sie sofort aus dem
Bund Deutscher Mädchen, BDM, austrat."
Eine Grabowerin in Hamburg. |
Lydia
1941 beim BDM-Lager in Bevensen
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Wenn ich meine BDM-Mädchen fragte, was wollen wir heute machen? Schrieen
alle: "Völkerball!". Ich musste ihnen dann aber noch aus den
BDM-Heften von Hitlers Leben und von seinen Ideen vorlesen.
Die Mädchen
hörten kaum zu und drangen zur Eile. Sie wollten spielen.
Sport war zu Hitlers Zeiten groß geschrieben. Die Treffen zu
großen Sportfesten waren für uns wunderbar. Wir kamen raus, trafen mit
vielen jungen Menschen zusammen. Naiv, wie wir waren, sangen wir die Lieder,
wie: 'Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert, mit
ruhigem, festem Schritt .....' |
1941 Reichssportwettkampf von BDM und HJ auf dem
Grabower Heidberg |
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Dann kam der Krieg! Als er angefangen hatte, trafen auch schon die
Gefallenennachrichten ein. Als Erster hatte ein Klassenkollege seinen Vater
verloren.
Trotzdem waren der erfolgreiche Polenfeldzug und all die späteren Siege an
allen Fronten eine wahre Freude für uns Kinder und die Begeisterung für
Hitler und seine Wehrmacht wuchs ständig.
Alle glaubten an einen schnellen Sieg. Wir gingen oft ins Kino, das immer
mit einer Wochenschau begann. Stets führte man uns die erfolgreiche,
siegesgewisse Wehrmacht vor Augen. |
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Die Infanterie, die Marine und die
Luftwaffe waren immer und überall die Siegreichen. Wir sangen weiter:
"Denn wir fahren gegen Engelland und siegreich wollen wir Frankreich
schlagen."
Da die Bombenangriffe auf Hamburg stärker wurden, bat meine Mutter
Elfriede, nach Hause zu kommen. Von da an übernahm Elfriede das Geschäft.
Sehr viel Arbeit machte im Laden die Lebensmittelverteilung auf
Marken.
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Jeder Deutsche bekam eine Lebensmittelkarte. Die Marken mussten getrennt
abgeschnitten werden und für jedes Lebensmittel (Zucker, Mehl, Nudeln etc.)
getrennt wieder auf große Bögen geklebt werden. Damit ging der Ladeninhaber zum
Magistrat und bekam Bezugsscheine für neue Ware. Wir waren jetzt froh, dass
Elfriede zu Hause war. Da ich noch zur Schule ging, hätte meine Mutter
diese Arbeit allein nicht schaffen können. |
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Im April 1943 bestand ich die mittlere Reife. Unsere Berufswünsche mussten
wir alle an den Nagel hängen. Mein Berufswunsch war Kindergärtnerin. Was
wir zu tun und zu lassen hatten, bestimmte Hitler. Die Jungs mussten alle
zum Arbeitsdienst und danach zur Wehrmacht. Die Mädchen, deren Eltern
Landwirtschaft hatten, durften zu Hause bleiben, wenn sie in der
Landwirtschaft halfen. |
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Die anderen Mädchen mussten auch zum Arbeitsdienst. Da das Feiern verboten
war, suchten wir uns für unsere Abschiedsfeier ein verstecktes Zimmer im
Hotel zur Krone in Lüchow. Da war die Stimmung toll und dann wurde das
Küssen geübt. Jeder ging dann seinen Weg und ich verlor alle aus den
Augen. Ich war ab dieser Zeit voll eingesetzt im Laden und in unserer
Landwirtschaft mit meiner Schwester Elfriede. Meine Freundinnen und Freunde
waren nun aus der Grabower Jugend. Wir hielten alle sehr zusammen. Sie
halfen uns oft beim Markenkleben. Ich konnte im elterlichen Geschäft die
kaufmännische Lehre machen. |
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1944
Wir waren so sorglos und voller Freude, vom Krieg merkten wir nichts.
Jedenfalls ging es mir so, es schien alles so weit weg. Elfriede hatte zwar
lange nichts von ihrem Verlobten Ernst gehört, aber von Berthold kam
laufend Post aus Kreta. Daß unsere deutsche Wehrmacht keine Siege und keine
Vormärsche mehr zu berichten hatte, kümmerte mich auch wenig, weil es
immer wieder durch Hitlers und Göbbels Reden beschönigt wurde."
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"Ich machte einen Krankendienst-Kursus und wurde für kurze Zeit bei dem
Arzt der Munitionsfabrik in Walsrode eingesetzt."
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Berthold war seit 1941 Soldat und in Russland auf der Krim schwer am Kopf
verwundet worden. Nach langen Aufenthalten in Lazarett und Nervenklinik wurde er
doch wieder an die Front geschickt und kam beim Rückzug auf dem Balkan um.
Aus der vorliegenden Feldpost geht seine Erfahrungswelt hervor, die im
Widerspruch zu Lydias Begeisterung steht. Wir dokumentieren sein Schicksal
auf einer Extraseite.
Berthold
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1944 ist Lydia 17 Jahre alt und bis über beide Ohren in
einen Soldaten verliebt.
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Ihr umfangreiches Tagebuch, das 1945 auf einer Bahnfahrt gestohlen
wurde, aber später zerrissen wieder auftauchte, ist erhalten
geblieben. Es enthält hauptsächlich diese Liebesgeschichte, aber für
den aufmerksamen Leser auch viel Aufschlussreiches und Authentisches
über die Stimmung in Grabow im letzten Kriegsjahr.
Im August werden Soldaten in Grabow einquartiert. Ausschnitte aus
Lydias Tagebuch:
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22. September 1944
Große Vorbereitungen zum "Kameradschaftsnachmittag auf dem
Heidberg" sind getroffen. Sämtliche Einwohner Grabows und noch einige
Persönlichkeiten aus anderen Ortschaften sind eingeladen! Eine
Künstlergruppe ist aufgestellt, die für Unterhaltung der Gäste sorgen
soll. Weiter wurde noch nichts verraten. Die Kompanie ist zum Heidberg
rausmarschiert. Und jetzt strömt alt und jung, groß und klein hinterher.
Alle sind schon fort! Ich mache mich als letzte auf den Weg. |
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Da kommt Erwin Schmidt mit dem Fahrrad und nimmt mich mit. Auf dem Heidberg
hat schon die erste Vorführung begonnen. Eine Kampfszene wird gezeigt.
Anwendung der neuen Waffe Panzerfaust. Das Ulkigste dabei ist der Panzer. Von einem Graben zum anderen ist eine Schiene gelegt. Hier drauf steht eine
Kohlenlore, die - getarnt durch eine Unmenge Gestrüpp - den Panzer darstellt.
Der Panzer setzt sich in Bewegung, indem ihn "der Feind" zu sich
heranzieht, mittels einem Strick, der am Panzer befestigt ist. Plötzlich steht
er still, schon bevor er soll. Dennoch klappt die Kampfszene. Dann werden
die Gäste zum Kaffeetrinken gebeten. Friedensmäßigen Pflaumenkuchen gibt
es sogar! Die Künstlergruppe sorgt für Unterhaltung und für Musik. Ganz
idyllisch ist das Kaffeetrinken im Freien. |
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Doch dann kam alles anders. Heilmann, der wie immer in der Gaststube sein
Gesicht hinter der Zeitung versteckte und mir zublinzelte, bestellte mich
nach draußen. "Ich muß dir was sagen. Es fällt mir sehr schwer. Wir
drei haben uns freiwillig an die Westfront gemeldet." |
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Ich war so
geschockt und wollte es nicht glauben. "Warum freiwillig, ich verstehe
es nicht!" "Wir können es nicht mehr verantworten, hier in dem
friedlichen Dorf, fern vom Kriegsgeschehen, zuzusehen wie Frauen und Kinder,
ja die ganze Zivilbevölkerung in den Großstädten und auch anderswo
ungeschützt durch die Bombardierung und das Vordringen der Feinde an den
Grenzen dem Krieg ausgesetzt sind." "Und da müßt ihr etwas tun
und das soll ich verstehen!" Ich verstand es nicht. Eine Welt - eine
sorglose, schöne - brach für mich zusammen. "Nicht die ganze
Kompanie, aber zwei Züge, die ihre Ausbildung hier beendet haben, kommen an
die Westfront und da gehen wir mit!" Ich war sehr sehr traurig. Wir
gingen noch in den Abend hinein, schauten in den Mond und versprachen uns,
uns nicht zu vergessen. Wieweit und wo wir auch getrennt sein würden, der
Mond scheint überall und wir wollten jeden Abend um 22 Uhr in den
Mondschein schauen und aneinander denken. Mit diesem Versprechen nahmen wir
beide Abschied. |
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Schon bald kommen keine Briefe mehr von Walter Heilmann und er
gilt lange Zeit als vermisst.
"Erst am 1. Mai 1946 erhielt ich die Gewissheit, dass Walter
gefallen ist. Seine Mutter schickte mir die Meldung , in der es
hieß: "Nach einer hier vorliegenden dienstlichen Meldung ist
Ihr Angehöriger Walter Heilmann geb. 6.10.27 in Quakenbrück am
9.12.44 gefallen. Todesart: unbekannt, Grablage: Henri Chapelle
II, Grb. 5 Rh I." Aus der Todesannonce ging hervor,
dass Walter Heilmann Gefreiter in einem Fallschirmjäger-Regiment
war und seiner schweren Verwundung, die er sich bei den harten
Kämpfen westlich Düren zugezogen hatte, im 21. Lebensjahr erlag.
Egon hatte seiner Mutter bereits Anfang 1945 geschrieben:
"Walter Heilmann wurde am 24.11.44 verwundet: Brustschuss.
Bei dem Versuch, ihn zu verbinden, hat's mich erwischt." Doch
diesen Brief erhielt ich auch erst im Mai." |
Das Foto (aus dem Tagebuch) mit Walter Heilmann wurde
wahrscheinlich in einem früheren Kriegsjahr an der Ostfront
aufgenommen. |
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April 1945
Eines Abends kam meine Freundin Haldis vom Obergut zu mir nach Hause. Sie
machte auf dem Obergut bei dem Bruder von Herrn August von Plato ihr
Pflichtjahr: "Ly, ich muss dir was sagen. Wir verlieren den Krieg. Es
geht zu Ende. Herr von Plato ist Offizier. Er weiß es. Ich soll nach Hause
fahren nach Bad Pyrmont, sonst komme ich vielleicht nicht mehr weg. Ich
wollte mich von dir verabschieden." Noch ehe ich etwas sagen kann, ist
sie wieder weg. Das kann doch nicht wahr sein! Wir verlieren den Krieg!
Alles Leid ist umsonst. Ich kann und kann es nicht glauben. Es soll doch
noch die Wunderwaffe eingesetzt werden, die uns auf jeden Fall den Sieg
bringt.
Kurz vor dem Ende kam der Ortsgruppenleiter der Partei zu mir. Er war sehr
aufgeregt und ängstlich: "Lydia, komm wir müssen unsere Bücher
verbrennen. Die Amis kommen. Wenn die bei uns etwas von Hitler finden,
werden wir eingesperrt." Er brachte einen großen Packen Bücher,
Hitlerbilder und sogar "Mein Kampf". Wir gingen in unseren Garten.
Mein Vater, der stets gegen Hitler war, brachte geschnittenes Stroh und
darauf stapelten wir unsere Hitlerschriften. Indem wir das Stroh ansteckten,
begann unser Vernichtungswerk. Wir hofften, dass uns niemand beobachtet
hatte. Doch unser Ortsgruppenleiter war auch unser Lehrer und wer wollte es
schon mit ihm verderben.
Am selben Tag ruft meine Freundin Ilse aus Jameln
an: "Hier ist ein Verpflegungslager mit Konserven aller Art und sehr
viel Schnaps freigegeben. Jeder kann sich holen, soviel er will, damit es
nicht in Feindeshand kommt. Holt euch auch was!" Das war meinem
Vater zu gefährlich. Er machte es nicht, denn es hieß schon: Die
Amerikaner kommen. Alle Männer im Alter von 16 bis 65 Jahren wurden zum
Volkssturm berufen. Sie sollten jetzt Panzersperren bauen. Mein Vater fasste
sich an den Kopf und sagte: "Damit können wir doch die amerikanischen
Panzer nicht aufhalten."
Deutsche Soldaten verbarrikadierten sich in
einigen Häusern im Dorf und wollten Widerstand leisten. Mein Vater hatte
sich einen Planwagen gemacht. Er spannte die Pferde an. Wir beluden den
Wagen mit Federbetten, Kleidung und Lebensmitteln. Man konnte nicht wissen,
vielleicht wurde noch alles kaputt geschossen. Er wollte das Notwendigste
retten und fuhr damit zu den Jeetzel-Wiesen weit ab vom Dorf.
Wir liefen zu
Tante Emma, denn sie hatte einen guten Keller. Dort wollten wir Schutz
suchen. Nach Stunden voller Aufregung und Bangen sahen wir aus dem kleinen
Kellerfenster, dass die Nachbarn ihre weißen Bettlaken zum Zeichen der
Kapitulation aus dem Fenster gehängt hatten. Schnell machten wir es auch
so. Und schon kamen die amerikanischen Panzer.
Lydias Tagebuch
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Soldat Berthold Grebien |
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