Lydia
erzählt:
"Es hieß nicht Werbung, sondern Reklame. Es gab die sehr schönen
Reklameschilder aus Blech: "Persil bleibt Persil". Auch für Bier gab es
solche Reklame. Unser Haus war innen und außen damit dekoriert. Das Schönste
war aber, wenn der Erdal-Reklame-Mann kam. Er ging auf Stelzen und mit einer
großen Glocke klingelte er die Dorfbewohner zusammen. (siehe rechte
Spalte). Das war ein Spaß für uns Kinder. Es gab viele Geschenke: "Jojo",
Brummkreisel, kleine Schachteln Schuhcreme, Fähnchen. Meine Mutter kaufte
dann für den Laden viele Sorten Schuhcreme, Stiefelfett und Bohnerwachs von
Erdal ein.
Was war sonst noch los in unserem Dorf? Einmal im Jahr kam der
Schneidermeister Brille. Er nähte Herrenanzüge und Damenkostüme
und brachte hierfür auch die Stoffe mit. Alles, was er anfertigte,
saß gut und war sehr akkurat genäht. Meine Mutter ließ auch bei
ihm für meinen Bruder 1935 den Konfirmationsanzug und später
1938/39 für ihn einen Anzug nähen, den er sonntags mit Oberhemd
und Krawatte trug. Hübsch sah er aus damit. Hatte Schneidermeister
Brille nun seine Arbeit getan und sich im Dorf sein Geld verdient,
kam er in unsere Gaststube und trank und trank tagelang. Sein
Anzug glänzte vor Dreck. Ich fand es schrecklich. Wenn Mutter ihn
erinnerte, er solle doch nicht seinen ganzen Verdienst vertrinken,
schließlich müsse er doch neue Stoffe kaufen, war er beleidigt und
ging in die andere Gaststätte. Es gab damals noch eine zweite –
die Bahnhofsgaststätte Wolf, die hatten auch noch die Post dabei.
Manchmal kam auch ein Fotograf. Der hatte einen tanzenden Bär
mitgebracht, der trommelte die Dorfbewohner zusammen und viele
ließen sich mit dem Bären oder auch ohne ihn fotografieren. Wenn
meine Mutter sagte: „Komm, du sollst geknipst werden“, lief ich
weg, ich dachte das "Knipsen" tut weh. Deshalb gibt es auch kein
Bild von mir als kleines Mädchen.
Ja, und dann kam der Glasbläser. Auch der holte die Leute
zusammen. In unser Gaststube führte er seine Kunst vor. Es
faszinierte mich sehr, welche wunderschönen Glasfiguren in
herrlichen Farben durch das Blasen mit dem Mund entstanden. Ich
durfte mir einmal kleine, längliche Blumenvasen mit vier
klitzekleinen Füßchen kaufen. Die habe ich lange gehütet und damit
den Tisch zu besonderen Anlässen geschmückt.
Ja, und dann hieß es: „Der Pötter ist da!“ Das war ein ganz
großer Wagen mit Töpfen, Pfannen, Eimern, Kannen und Sieben, mit
einer riesigen Auswahl von Haushaltsgegenständen rundherum
bestückt. Richtig schön anzuschauen. Der Wagen wurde mit Pferden
gezogen und kam von der Altmark herüber. Meine Mutter hatte auch
Haushaltsgegenstände in ihrem Laden. Doch nicht ein so großes
Sortiment. Und somit machte der Pötter sein Geschäft auf der
Straße.
Kam aber der „billige Jakob“ mit seinem Bauchladen ins Dorf,
sah meine Mutter rot, denn das war eine wahre Konkurrenz mit den
Kurzwaren, die wir auch im Laden hatten. Hatte der sein Geschäft
gemacht, kam er in die Gaststube und bestellte sich eine Brühe zum
Aufwärmen und ein Mettwurstbrot und somit war der Groll meiner
Mutter verflogen. Die Brühe machte meine Mutter von Maggiwürfeln
und tat ein Stück Butter in die heiße Brühe.
Bestellte jemand einen Glühwein oder Rumgrog, wurde das Wasser
vom Nachbarn Wolfrath geholt. Das war ganz klar und blieb es auch,
wenn es gekocht hatte. Meister Wolfrath, der auch unsere Enten und
Gänse schlachtete, bekam dafür den Harzer Käse, den wir nicht los
geworden waren. Ihn störte es nicht, wenn da schon die Maden drin
waren. Das ist wohl der Grund, dass ich bis heute keinen Harzer
Käse mag.
Wenn es hieß: „Die Zigeuner kommen!“, dann war was los. Die
klauten nämlich, was sie kriegen konnten. Im Laden mussten wir wie
ein Luchs auf der Höhe sein. Trotzdem gelang es ihnen, etwas zu
ergattern. Wenn nicht im Haus, dann auf dem Hof: Kartoffeln, Heu
und Stroh. Aber es kamen auch ehrliche Zigeuner, die verdienten
sich ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Deckchen und
Tüchern. Manche Zigeuner blieben tagelang. Sie kampierten immer
vor unserem Haus. Ich hatte mich einmal mit einem Zigeunermädchen,
das so alt war wie ich, angefreundet. Leider zogen sie weiter und
ich hörte nie wieder etwas von ihr.
Dann gab es noch den Wanderzirkus. Da bestaunten wir dann ihre
Künste. Am besten gefielen mir die Seiltänzerinnen. Es war immer
eine ganze Familie, von der jeder etwas vorführte. Neun Monate
zogen sie umher und drei Monate bezogen sie ihr Winterquartier.
Kam ein großer Zirkus mit Elefanten und Kamelen, gastierten sie in
den Städten. Zum Beispiel in Lüchow kamen sie mit dem Güterzug auf
dem Bahnhof an, zogen mit ihren Wagen und Tieren durch die Stadt
zum Schützenplatz.
Weihnachten. Jeder denkt wohl gerne an Weihnachten zurück, wenn
auch mit einem Tröpfchen Wehmut. Wie war es bei uns zuhause? Schon
die Vorweihnachtszeit war bei uns mit viel Arbeit verbunden. Das
Clubzimmer wurde Verkaufsraum für Spielsachen aller Art.
Weihnachtsbäume, die mein Vater selbst gepflanzt hatte, wurden
gefällt und zum Verkauf zum Markt nach Salzwedel und Lüchow
gebracht. Auch die Dörfer im Umkreis von Grabow und Lüchow wurden
mit dem Pferdefuhrwerk angefahren. Enten und Gänse mussten
geschlachtet und gerupft werden. Damit fuhren meine Eltern sogar
nach Berlin zum Markt. In unserem Laden gab es auch viel, viel zu
tun.
Aber irgendwann kam dann der Heiligabend. Wir Schulkinder
gingen alle gemeinsam zu Fuß nach Plate zur Kirche. Es wurde
gesungen und gescherzt. Die Jungen liefen vorweg und versteckten
sich und erschreckten uns, wenn sie plötzlich hinterm Busch
vorkamen.
In der Kirche wurden die Kerzen an den Weihnachtsbäumen von den
Konfirmanden angezündet. Andächtig lauschten wir auf die
Weihnachtsbotschaft. Und nach dem Gesang: „Oh du fröhliche“ und
„Stille Nacht“ ging es dann im Trab nachhause. Jeder war gespannt
auf den Weihnachtsmann und die Bescherung. Kam ich nach Haus,
stand meine Mutter noch im Laden, denn nach dem Gottesdienst
kehrten noch viele bei ihr ein, um noch für das große Fest
einzukaufen. Sie hatten festgestellt, dass eine neue
Weihnachtsbaumspitze und Lametta fehlten. Auch kleine Geschenke
wurden noch gekauft.
In die Weihnachtsstube durfte ich nicht, da wirtschafteten
meine großen Geschwister. Zu mir sagte man, da wäre der
Weihnachtsmann, da dürfte ich nicht hinein. Das war mir dann doch
zu bunt und ich lief zu Tante Emma und Onkel Heinrich. Da war der
Weihnachtsbaum schon geschmückt und es gab auch was zu essen. Doch
das große Grünkohlessen war zuhause. Und bis zur Bescherung war es
dann Mitternacht geworden. Das war der einzige Abend im Jahr, an
dem wir zusammen saßen. Tante Emma war auch dabei. Mich wunderte,
dass Onkel Heinrich immer erst kam, nachdem der Weihnachtsmann da
gewesen war. Ich bekam immer wunderschöne Geschenke: eine große
Puppenstube mit schönen Möbeln und richtigen Lampen, die wurden
mit einer Batterie betrieben und für das Schlafzimmer war
richtiges Bettzeug angefertigt worden, das hatte sicher meine
Schwester gemacht. Einmal bekam ich ein wunderschönes Himmelbett
für eine Puppe mit Schlafaugen.
Am 1. Weihnachtstag besichtigten wir Kinder die
Weihnachtsbäume. Wir gingen von Haus zu Haus und bekamen überall
Leckereien. Am besten gefiel mir der Weihnachtsbaum von unserem
Nachbarn Wolfrath. Das war ein Baum mit Spieluhr. Die wurde
aufgedreht. Der ganze Baum drehte sich und dabei erklangen
Weihnachtslieder.
Zwischen den Feiertagen gab es etwas ganz besonderes bei uns in
Grabow. Alle Schulkinder der Grabower Schule (8 Jahrgänge) wurden
auf dem Untergut bei von Platos eingeladen. Wir wurden von der
Frau Baronin in der Leuteküche empfangen und die Mamsell bewirtete
uns mit Kakao und Weißbrot. Dann ging es in die große
Weihnachtsstube, dort stand ein großer Weihnachtsbaum, so groß wie
in der Kirche. Die Kerzen waren schon angezündet. Alle Kinder
stellten sich im Halbkreis davor. Es wurde gesungen und Gedichte
wurden vorgetragen. Heimlich schielten wir zu den großen Tischen,
wo die Geschenke bunt verpackt aufgebaut waren. Jedes Kind bekam
drei Geschenke: ein großes, ein kleines und eine Weihnachtstüte.
Die Frau Baronin war aus England auf das Untergut geheiratet.
Ihre Eltern hatten eine Spielzeugfabrik. Wir hatten unsere Wünsche
vorher äußern können. Alles war liebevoll verpackt: Als großes
Geschenk gab es Spiele, Denkfix, Puppen, Holztiere und auch
Bücher. Alles war in deutsch. Demnach exportierte die englische
Fabrik Spielwaren nach Deutschland. Als kleines Geschenk gab es
etwas zum Krach machen. Wie zum Beispiel eine Ratter, Flöten,
Trommeln und mehr. Das war dann auf dem Nachhauseweg ein
fröhliches Durcheinander. Die Weihnachtstüte war von einem großen
Bogen Weihnachtspapier mit Nüssen, Pfeffernüssen, Schokolade und
Keksen zusammengerollt und an beiden Enden mit roten Schleifen
zusammen gebunden. Nach dieser Bescherung folgte noch das
Schönste: Die Tochter Barbara von Plato machte eine
Kinovorstellung mit der „Laterna magica“ und erzählte dazu. Ich
war immer ganz hingerissen von ihrer Stimme und von den Bildern.
Es gab damals noch kein Kino bei uns und natürlich auch kein
Fernsehen und so ein Heimkino hatte sonst niemand im Dorf.
Gegenüber von Tante Emma und Onkel Heinrich wohnten Onkel
Heinrichs Eltern. Daneben hatte der Tischler Walter Wolfrath eine
kleine Werkstatt. Eines Nachts im Mai 1936 brach dort ein
Großfeuer aus. Das Schlafzimmer, in dem Tante Emma, Onkel
Heinrich, Giesela und ich schliefen, war hell erleuchtet. Die
Flammen schlugen schon zum Haus der Großeltern rüber. Giesela
wurde schnell in den Kinderwagen gelegt und ich musste sie zu uns
nach Hause bringen.
Dort war ich ganz allein mit ihr in der Gaststube. Ich habe solche
Angst gehabt. Alle waren beim Feuer. Es gelang ihnen nur, Onkel
Heinrichs Scheune und Wohnhaus vorm Feuer zu retten. Das Feuer
griff um sich und vernichtete nicht nur die Werkstatt und das Haus
der Großeltern, sondern auch noch ein Deputathaus mit zwei
Wohnungen, welches zum Untergut gehörte. Die Feuerwehr mit ihrer
Handspritze und das ganze Dorf mit einer Wassereimerkette hatten
getan, was nur möglich war. Als das Feuer so weit gelöscht war,
kamen alle zu mir in die Gaststube. Dort bekamen sie Bier und
Schnaps. August Meyer hatte wohl zu tief in die Flasche geschaut.
Bei den späteren Löscharbeiten während der Nacht, fiel er von der
Leiter. Ihn brachten sie dann zu mir in die Gaststube. Es war
alles so schrecklich und seitdem habe ich große Angst vor Feuer.
1933 kam ich zur Schule. Ich wollte nicht mehr die kleine
Verwöhnte sein. Die Männer in der Gaststube hatten mich deswegen
schon immer geärgert und gemeint, ich könne unmöglich auf der
harten Schulbank sitzen. Da müsse meine Mutter mit und mich auf
den Schoß nehmen. Nun erlaubte ich nicht, dass sie mich zur
Einschulung begleitete."
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1930 bei einer Hochzeitsfeier. Lydia sitzt auf dem Schoß ihres
Vaters, der jetzt schon 49 Jahre ist. Daneben seine
Schwiegermutter aus Wibbese, Maria Kofahl, die nach dem Tod ihres
Mannes zu den Grebiens nach Grabow gezogen ist.
Berthold im Konfirmationsanzug.
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