Trotz der strengen Frosttage hat sich auf
der Elbe Hochwasser gebildet.
Kein Mensch kann sich hier erinnern, bisher ein Winterhochwasser in
dieser Höhe erlebt zu haben. Noch droht keine unmittelbare Gefahr.
Wenn wir Schulkinder am Morgen nach Dannenberg zur Schule gehen,
können wir ein seltsames Schauspiel erleben. Wir bleiben an der
Jeetzelbrücke stehen und sehen, wie der Fluss rückwärts in Richtung
Quelle fließt.
Die Elbe bei Hitzacker drückt das Wasser in den Nebenfluss, so dass
dieser diese Wassermenge in das Hinterland abgeben muss.
Zusätzlich haben sich auch noch Eisschollen gebildet, welche die
unmittelbar am Ufer liegenden Dannenberger Häuser in der Nähe der
Brücke gefährden.
Unser Lehrer Schaal, der in einem dieser Häuser wohnt, hat eine lange
Stange in der Hand und versucht damit, die Eisschollen von den
Häuserwänden fortzudrücken. Das sieht verdächtig nach schulfrei aus.
Aber es wohnen ja leider nicht alle Lehrer an der Jeetzel.
Der Schulplatz, der unmittelbar an den Fluss grenzt, ist schon
merklich kleiner geworden. Das Wasser erreicht sicher bald die Schule.
Das Hinterland hinter dem Deich in Nebenstedt besteht mittlerweile nur
noch aus einem großen See, der jeden Tag immer etwas mehr den Deich
hochsteigt. Vor dem Deich bilden sich die ersten Wasserstellen, die
durch das hochsteigende Grundwasser entstehen. Alle Wasserflächen sind
bald mit Eis überzogen, das am Anfang noch relativ dünn ist und beim
Begehen durchbiegt. Es wird daher von uns Kindern als Biegeeis
bezeichnet.
Wir Kinder holen unsere Schlitten und fahren auf der Innenseite des
Deiches den Deich hinunter, wobei der Auslauf für den Schlitten von
dieser Eisfläche gebildet wird. Die Eisfläche bröckelt dabei am
Deichrand bei jedem Hinabfahren etwas ab, was uns aber nicht
beeindruckt, weil die noch kleine Wasserspalte vom Schlitten mühelos
überwunden wird.
Die Erste, die sich nicht mehr auf diese Tatsache verlassen kann, ist
C. W. Der Schlitten bohrt sich, statt auf das Eis zu gleiten unter die
Eisdecke.
Als sie sich an das Ufer retten will, bricht sie auf der sich in
Wellen biegenden Eisdecke ein und steht bis zum Bauch im Wasser. Dabei
fängt sie jämmerlich zu weinen an und macht keine Anstalten wieder an
Land zu kommen.
Da ich ihr helfen will, begebe ich mich von der Seite aufs Eis und
will sie mit den Händen auf das Ufer ziehen.
Aber das Eis ist nun so bröckelig geworden, dass auch ich einbreche
und ebenfalls bis Bauchhöhe im Wasser stehe. Gemeinsam, Hand in Hand
waten wir nun an Land und frieren jämmerlich. Jetzt können wir nicht
schnell genug nach Hause gelangen.
C. erhält zu Hause noch zusätzlich zu ihrem Leid eine Tracht Prügel,
was durch die Wand mühelos zu vernehmen ist. M. hat nämlich alle
Register ihrer Lautstärke gezogen. Ich komme bei meiner Mutter
glimpflich mit einer Schelte davon.
Das Hochwasser steigt ständig.
In
Dannenberg kann die Straße nicht mehr normal begangen werden. Deshalb
sind auf den Bürgersteigen Stellagen am Rand der Häuser aufgestellt
worden, über die der Fußgänger sein Ziel erreichen muss.
Der Schulweg führt ebenfalls über diese Hindernisse. Für uns
Schulkinder ein besonderes Erlebnis.
Die Schule kann nicht mehr über den Eingang des Schulhofs erreicht
werden, sondern nur noch durch den Vordereingang, der wie bei vielen
Schulen so üblich, normalerweise geschlossen bleibt.
Auf dem Schulweg wird schon einmal geschubst und gestritten. Bei einem
dieser Rangeleien fällt dann auch prompt einer der Schüler von der
Stellage ins kalte Wasser. Damit ist für ihn die Schule für diesen Tag
beendet und er läuft, nachdem er wieder festen Boden unter den Füßen
hat, schreiend nach Hause.
In Nebenstedt spitzt sich die Lage durch das Hochwasser allmählich zu.
Die Gefahr, vom Wasser überflutet zu werden, droht weniger vom Deich
im Ort, der uns vor der noch immer ansteigenden Jeetzel schützt.
Zwar fehlen auch hier nur noch wenige Zentimeter, bis das Wasser die
Deichkrone erreicht, die Hauptgefahr kommt aber vom Elbdeich in
Damnatz.
Dort steht der Wasserpegel nur kurz unter der Deichkrone. Der Deich
wäre schon lange gebrochen, wenn der Frost ihn nicht zusammenhielte.
Anderseits drohen sich auftürmende Eisschollen den Deich schnell zu
zerstören.
Alles im Dorf hat sich auf Hochwasser eingestellt. Viele Bauern
befördern ihr Vieh über die strohbedeckte Treppe auf den Dachboden.
Einige wollen die Tiere irgendwo hinter Gusborn unterbringen.
Dort gibt es genügend Bodenerhebungen, die nicht vom Hochwasser
erreicht werden können. Der Höhbeck mit seien 75 Metern Höhe nahe der
Elbe ist die höchste Erhebung und in dieser Hinsicht absolut sicher.
Die Menschen dort werden von uns beneidet, da sie keine Probleme mit
dem Wasser haben.
Es wird spekuliert, wie lange es dauert, bis das Wasser bei einem
Elbdeichbruch bei uns aufläuft, und wie hoch dann der Wasserspiegel an
den Häusern stände.
Am meisten fürchtet man dieses Ereignis zu nächtlicher Zeit. Wir
schleppen alle wichtigen Dinge auf die erste Etage und haben uns mit
den notwendigen Lebensmitteln, die zu erhalten waren, eingedeckt.
Das Wasser im Brunnen ist fast bis zur Höhe der Erdoberfläche
gestiegen und muss regelmäßig vom Eis befreit werden.
Es gibt nur noch ein Gesprächsthema, nämlich das Hochwasser.
Die Eisdecke hinter dem Deich hat eine beträchtliche Dicke erreicht.
Als die Lage in Damnatz äußerst kritisch wird, kommt die Meldung, dass
der Deich auf der anderen Elbseite bei Dömitz gebrochen ist. Dadurch
wird das aufgestaute Wasser nach Mecklenburg abgeleitet und es tritt
auf unserer Elbseite eine deutliche Entspannung ein, die das Wasser
absinken lässt. Alle Menschen atmen auf, wenn man sich auch darüber
klar ist, dass diese erfreuliche Lage auf Kosten der Bewohner der
anderen Elbseite eintritt.
Man kann Dannenberg jetzt auch bequem hinter dem Deich erreichen und
so den Schulweg abkürzen. Mutter hat mit einer Tauschaktion gegen
Lebensmittel ein Paar Schlittschuhe für mich erworben. Der Hohlschliff
ist zwar schon lange heraus, und die Kufen sind schon rund abgelaufen.
Wir laufen hinter dem Deich auf der spiegelblanken Eisfläche. Am
Anfang ist das Laufen recht mühsam, weil die Schlittschuhe immer
wegrutschen. Nach einigen Tagen Übung habe ich mich trotz des
fehlenden Hohlschliffs schon gut eingelaufen.
Die kilometerlange Eisfläche setzt uns keine Grenzen. Das
Rückwärtslaufen ist für uns eine besondere Freude und beweist unser
zunehmendes Können.
Da der Wasserspiegel zu fallen beginnt, ist in Deichnähe die Eisfläche
so abgeschrägt, dass wir sogar beim Starten vom Deich her bergrunter
laufen müssen.
Das Anbringen der Schlittschuhe am Schuh wird mit einem Schlüssel, dem
Nudler, vorgenommen. Dabei müssen wir beachten, die Schuhabsätze zu
schonen, da sie sonst abreißen. Wegen des knappen Schuhwerks wäre der
Spaß ohne Absatz schnell vorbei. Zusätzliche Riemen um den Schuh
minimieren das Risiko.
Oft wird nun, da das Wasser gefallen ist, der Schulweg mit
Schlittschuhen über die Eisfläche hinter dem Deich genommen. Das ist
eine willkommene Abwechslung und macht uns viel Freude. Nach vielen
Tagen liegt das Eis zerbrochen auf dem Boden und der Spaß ist vorbei.
Mitten im kalten Winter beschließen wir, Oma und Opa in B. G. zu
besuchen.
Das ist in dieser Zeit keine so leichte Aufgabe, da die Züge immer
voll besetzt sind, und die Menschen sich teilweise außen an die Wagen
klammern, um überhaupt befördert zu werden.
Mehr von Meinhard, auch über einen Besuch im
zerstörten Köln,
Vollständiger Bericht.
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