Nach der Besetzung durch die Amis scheint es keine Nazis mehr zu geben. Die
größten Fanatiker und Anhänger Hitlers scheinen nie gelebt zu haben. Da eine
bürgerliche Ordnung zurückkehren muss, werden die Verwaltungsfunktionen von
den Amerikanern wieder eingeführt.
Wir erhalten in Nebenstedt einen neuen Bürgermeister, der sich jetzt
Gemeindedirektor nennt. Er ist der Vater von A. K., der hauptberuflich
weiter Bauer bleibt.
Das Kühehüten ist in Nebenstedt noch an der Tagesordnung.
Die Rinder werden weit hinter den Deich auf Weiden gebracht, wo sie
wochenlang draußen bleiben.
Damit ihnen nichts zustößt bzw. sie nicht abhanden kommen können, werden sie
regelmäßig beaufsichtigt.
A. K. und ich sind von dieser Aufgabe, die man uns aufgetragen hat,
begeistert. Wir erhalten für unsere Arbeit Verpflegung auf den Weg und
bewegen uns den ganzen Tag an frischer Luft.
Die Wiesen liegen weit von Nebenstedt entfernt. Es ist sehr einsam hier, und
wir fühlen uns frei wie der Vogel in der Luft.
Der nächste Ort in Richtung Lüchow ist Klein-Heide, von dem wir in weiter
Ferne die roten Dächer erkennen können.
Auf gut zu erkletternden Eichen bauen wir uns ein Baumhaus und die Notdurft
wird zu unserer Gaudi von den Bäumen aus verrichtet.
Das Rauchen selbstgedrehter Zigaretten aus Zeitungspapier und altem
Eichenlaub wird fleißig geübt, auch wenn es oft zu unangenehmen Zuständen führt.
Den säuerlichen Geschmack der Eichenblätter habe ich jetzt noch auf der
Zunge.
Es ist eine Freiheit, weitab von jedem bewohnten und unbewohnten Gebäude,
die wir in vollen Zügen genießen, zumal wir bisher von der Schule verschont
worden sind. Wer weiß, wann die wieder beginnt.
Der Bauer G. hat sogar seine Pferde zeitweise auf der Weide. Da ein Freund
von mir genau gegenüber von seinem Bauernhof wohnt, darf er die Pferde
abends öfter nach Hause holen.
Einmal bin ich ebenfalls bei dieser Aktion dabei. Wir laufen zu Fuß über den
Deich auf die Pferdeweide.
Der Weg führt dorthin an einem Brack vorbei. Dort
angekommen, blicken uns die Pferde misstrauisch an, als wenn sie sagen
wollen:
'Was wollt ihr denn hier, lasst uns in Ruhe weiter grasen.'
Wir nähern uns vorsichtig den Gäulen und W. will sich des 'gefährlicheren'
Tiers annehmen, weil er glaubt, die Pferde genau zu kennen.
Als die beiden sich gegen die geplante Mitnahme nicht wehren, schlägt er
vor, diese zu besteigen, weil wir so viel schneller nach Hause kämen.
Meine Bedenken zu diesem Vorschlag, werden von W. mit dem Argument, die
Pferde seien zahm, zurückgewiesen. Wir besteigen also als stolze Reiter ohne
Sattel die Pferde.
Die erste Strecke geht auch sehr zügig Richtung Nebenstedt. Als wir aber vor
dem Deich an einem Brack vorbeikommen, hält es unsere Reittiere nicht
länger.
Möglicherweise sind sie auch vom Durst geplagt, weil sie auf der Weide
nichts zu saufen hatten.
Auf jeden Fall steigen sie mit uns in das erfrischende Nass und lassen sich
von uns auch nicht durch lautes Schreien und Drohen aus der Ruhe bringen.
Sie saufen sich erst einmal richtig voll, ehe sie sich nach einiger Zeit von
uns überreden lassen, den rechten Weg einzuschlagen.
Uns ist bei diesem unfreiwilligen Bad das Reiten gründlich verdorben worden.
Wir sind froh, die Pferde anschließend beim Bauern abgeben zu können.
Der wartet schon auf uns, um seine Zugtiere vor den Wagen zu spannen.
Deutschland ist jetzt in vier Besatzungszonen unterteilt.
Unsere Ecke wird nun von den Engländern verwaltet.
Die 'wilden' Zeiten ohne Schule sind vorbei und alle schulpflichtigen Kinder
müssen wieder zur Schule gehen.
Auch ich drücke jetzt die Schulbank in Dannenberg, genau in dem Gebäude, in
dem wir die erste Woche nach der Flucht untergebracht wurden.
Die Volksschule befindet sich im Parterre. Im ersten Stockwerk hat man die
Mittelschule eingerichtet.
Ein Gymnasium hat Dannenberg nicht. Wer seine Kinder dahin schicken will,
muss sie in Lüchow oder Uelzen, 42 Kilometer entfernt anmelden. Das ist bei
den jetzigen Verkehrsverhältnissen jedoch unmöglich, da es keine geeigneten
Beförderungsmittel gibt.
Ich komme in die 3. Klasse der Volksschule.
Unser Lehrer heißt Lohmann. Er ist eigentlich schon im Ruhestand, aber da
die
ehemaligen Lehrer erst einmal entnazifiziert werden müssen, greift man wohl
zunächst auf ältere unbescholtene Lehrkräfte zurück.
Das Schuljahr beginnt jetzt zu Ostern und nicht mehr im Herbst, wie es
vorher üblich war. Eigentlich bin ich durch diese Regelung mindestens ein
Jahr in den Rückstand gekommen, aber das gilt schließlich für alle Schüler.
Der Unterricht in der Schule hat gegenüber dem des 1000-jährigen Reiches
andere Züge angenommen.
Anstatt das Horst-Wessel-Lied zu singen, singen wir am Schulschluss:
'Wach auf, wach auf du deutsches Land, hast lang genug geschlafen.'
Außerdem sprechen wir am Ende des Unterrichts ein Gebet.
Damit in dieser Zeit die Kinder etwas mehr Kalorien erhalten, als den
Meisten zu Hause einverleibt wird, erhalten wir eine Schulspeisung, bei der
jeder in seinem mitgebrachten Topf eine Suppe erhält.
In einer Einzelaktion werden bunte Vitaminpillen aus großen Gläsern
verteilt.
Die Mittel für diese Aktion sind angeblich in Chile für deutsche Kinder
gesammelt worden. Der Geschmack der Pillen ist überhaupt nicht angenehm.
Deshalb werden wir ermahnt, diese ja nicht wegzuwerfen.
Der Lehrer ermuntert uns, diese Dinger sofort zu schlucken, damit niemand in Versuchung gerät, sie fortzuwerfen.
Unser Schulweg wird von den Kindern aus Nebenstedt und auch weiter
abgelegenen Dörfern zu Fuß zurückgelegt. Wir haben es noch relativ nahe. Für
uns dauert der Weg etwa eine knappe halbe Stunde und macht uns nicht viel
aus.
Dennoch versuchen wir oft, uns etwas komfortabler fortzubewegen, indem wir
fremde Transportmittel benutzen.
Es sind fast die einzigen Verkehrsteilnehmer, die jetzt außer
Militärfahrzeugen fahren, nämlich die Milchwagen, die aus allen Dörfern der
Umgebung die Milch der Bauern nach Dannenberg zur Molkerei bringen.
Es sind dies mit alten Autorädern gummibereifte Pferdewagen. Das Führerhaus
besteht, wenn vorhanden, oft aus einer halben Autokarosserie, die auf dem
vorderen Wagenteil aufgebaut wurde und dem Kutscher Schutz gegen Regen bietet.
Da viele Dörfer abgeklappert werden müssen, gibt es eine Menge verschiedener
Wagen, die morgens aus den umliegenden Dörfern durch Nebenstedt fahren. Uns
sind nach kurzer Zeit deren 'Fahrpläne' gut bekannt. Nach kurzem
Anschleichen und Aufschwung an der hinteren Ladekante des Fuhrwerks wird
der Milchwagen zum Taxi.
Bald teilen wir diese Wagen in geeignete und ungeeignete Fortbewegungsmittel
ein.
Denn kaum sitzen wir hinten auf, kriegen wir schon die Peitsche des
Fahrers um die Ohren geknallt.
Die Kutscher scheinen uns diese Mitfahrt nicht zu gönnen, bzw. haben Spaß,
uns einen Schrecken einzujagen. Da aber nicht alle so missgünstig sind, ist
die Erfolgsquote dann doch auf die Dauer ganz passabel, zumal man sich an
uns gewöhnt hat.
Den Rückweg aus der Schule müssen wir meistens aber doch zu Fuß bewältigen,
da die die Milchwagen schon lange Richtung Heimat verschwunden sind. Dann
wählen wir unseren Weg meistens über den Deich, der mit seinem Hinterland
viel Abwechslung bietet.
Gerade im Mai sitzen auf den Eichen, die hinter dem Deich stehen, Scharen
von Maikäfern, die in Pappkartons gesammelt werden, und je nach Aussehen in
verschiedene Berufsgruppen, wie Müller, Bäcker, Schornsteinfeger, oder
andere unterteilt werden.
Da kann es schon geschehen, dass ein pünktliches Erscheinen zu Hause nicht
gewährleistet ist. Meine Mutter ermahnt mich dann regelmäßig, auf dem
direkten Weg nach Hause zu kommen, was aber nicht nachhaltig Erfolg hat.
Die Menschen achten nun nach dem Krieg darauf, nur nicht als ehemalige Nazis
erkannt zu werden, falls sie welche waren.
Weil die von den Besatzungsmächten in dieser Zeit geplante Entnazifizierung
angekündigt wird, ist dieses Thema Inhalt vieler Gespräche.
Eine Flüchtlingsfrau aus Dannenberg scheint mit diesem Thema auch
konfrontiert worden zu sein, wobei ihre kleinen Zwillingstöchter gute
Zuhörer waren.
Als die beiden den ersten Schulgang hinter sich haben, kommen sie nach Hause
und berichten:
'Mutti, der Lehrer hat gefragt, ob wir Deutsche sind.
Da haben wir gesagt, wir sind evangelisch. Wir haben aber nicht gesagt, dass
wir Nazis sind'.
Danach erwarteten sie wegen ihrer Klugheit ein großes Lob der Mutter.
Im Ort ist ein Gerät aufgetaucht, mit dem man Schnaps brennen kann.
Das ist zwar streng verboten, aber es wird dennoch von Haus zu Haus
weitergereicht, so dass viele Nebenstedter davon profitieren.
Am besten eignet sich die Kartoffel zur Schnapsherstellung.
Eines Tages steht das Destillationsgerät auch bei uns im Zimmer.
Die Herstellungszeiten werden auf die Nacht gelegt, damit niemand etwas
merkt, vor allem der in Nebenstedt wohnende Gendarm nicht.
Die Nachtstunden werden kräftig genutzt, um anzuheizen, und als die ersten
Tropfen aus dem Kühler laufen, werden sie sofort probiert.
Auch nach einiger Zeit lässt sich noch kein Kartoffelfusel abfüllen, weil
die Probenentnahme immer wieder fortgesetzt wird.
Man ist ganz begeistert von dem Schnaps.
Ich kann zwar öfter hören, wie scheußlich das Zeug schmeckt.
Dennoch findet der Alkohol fleißigen Zuspruch.
Am nächsten Morgen herrscht eine ausgedehnte Katerstimmung und jeder
schwört, diesen Fusel nie mehr anzufassen.
Aber der kann ja auch für Tauschzwecke genutzt werden. In dieser Zeit ist
jede Art von Lebensmittel zum Tauschen geeignet.
Trotz des Brennverbotes kennt fast jeder im Ort diesen Apparat.
Die Brennerei geht so lange gut, bis einer Nachbarin dessen Bedienung nicht
richtig handhabt.
Mit einem lauten Knall fliegt ihr der ganze Brennapparat in die Luft. Dabei
verletzt sie sich die Hand und ist kuriert.
Danach ist dieses Kapitel beendet.
Die Not, besonders die fehlenden Lebensmittel, machen
sich besonders bei den Großstädtern stark bemerkbar.
Deshalb kommen die Hamburger in Scharen am Ostbahnhof an und begeben sich
mit ihren Rucksäcken ringsum in die Dörfer, um gegen mitgebrachte Ware etwas
zum Essen zu tauschen.
Das nennt sich Kompensieren.
Die Bauern können auf diese Art alles Mögliche erhandeln, und die Geschichte
von dem Bauern, der Teppiche auch im Kuhstall haben soll, ist zwar
übertrieben, kommt der Realität aber sehr nahe.
Allmählich wird es den Nebenstedtern zuviel, wenn diese Leute mit ihren
Rucksäcken auftauchen. Sie verschließen ihre Türen, die bis dahin den ganzen
Tag offen standen.
Nun ist schon der Sommer da, und auf den vielen Eichen
des Dorfes haben sich Hunderte von Saatkrähen ihre Nester gebaut und
malträtieren mit ihrem Schreien die Bewohner im Dorf.
Eines Tages erscheint eine Handvoll Männer im Ort. Sie haben vor, dem Lärm
ein Ende zu bereiten. Sie steigen mit ihren Steigeisen wie Akrobaten auf die
Bäume und nehmen die Jungkrähen aus den Nestern. Die Vögel werden in
Kartoffelsäcke gesteckt. Ich kann nur mit der Dorfjugend staunend daneben
stehen und die artistischen Fähigkeiten bewundern. Junge Krähen sollen gut
schmecken, sagen sie.
Sie haben nach einigen Stunden viele Säcke mit zappelndem Inhalt gesammelt,
und niemand aus dem Dorf möchte ihnen ihre Beute streitig machen.
Nach und nach wird jeder mit Nestern bebaute Eichbaum erstiegen, und die
Krähen können noch so mit ihrem Geschrei protestieren, es wird kein Nest
ausgelassen. Nach ein paar Tagen hat das ganze Dorf wieder Ruhe.
Die Krähen sind verschwunden.
Das Tauschen von Essig gegen Lebensmittel ist nicht die einzige Möglichkeit,
an Nahrungsmittel zu gelangen.
Die Bauern im Dorf brauchen sich in dieser Beziehung verständlicherweise
nicht anzustrengen. Ihre Versorgung mit den Grundnahrungsmitteln bereitet
ihnen keine Schwierigkeit.
Da alle sowohl Landwirtschaft als auch Viehzucht betreiben, können sie sich
gut selbst versorgen.
Weil sie aber auch nicht ganz frei im Handeln sind, müssen
Schwarzschlachtungen die Eigenversorgung verbessern. Die sind zwar streng
verboten, aber kein Bauer will einsehen, nicht von dieser Möglichkeit
Gebrauch zu machen.
Schließlich sind es ja seine eigenen Tiere, die er schlachten will. Darum
wird dann regelmäßig irgendein Vieh von der Weide 'gestohlen', wobei jeder
weiß, wer das Rind oder das Schaf entwendet hat.
Von dem bei K. gestohlenen Schaf hat man das Fell auf dem Dorffriedhof
gefunden. Die Diebe hatten wohl nichts Besseres zu tun, als es nachts dort
zu schlachten.
Selbstverständlich hat der herbeigerufene Dorfgendarm auch keine Erklärung
für diesen Vorgang. Wahrscheinlich ist für ihn auch etwas zum Essen
abgefallen.
Hunger tut ja bekanntlich weh.
Jedermann besitzt in dieser Zeit seinen persönlichen Traum vom guten Essen.
Opa träumt öfter von einem Kringel Dämpfwurst, wie wir sie bei uns in
Ostpreußen bezeichneten.
Einmal noch möchte er eine ganze Wurst alleine essen.
Er kann gar nicht verstehen, dass er früher nicht mehr davon genossen hatte
und macht Oma ernsthaft Vorwürfe, dass sie ihm nicht öfter eine solche Wurst
vorgesetzt hätte.
Sie ist daraufhin ganz böse wegen dieses Unsinns und bemerkt, dass er jetzt
trotzdem denselben Hunger spüren würde, auch wenn er damals tausend Würste
verspeist hätte.
Auf irgendeine Art gelingt es Opa, ein lebendes Schwein zu ergattern.
Das Problem ist nur, wo man es erstens für den Kopftopf zubereiten kann,
zweitens, wer für diese Tätigkeit in Frage käme und drittens, wie diese
Aktion nicht auffällt.
Eine Fachkraft ist in dieser Zeit jedoch schnell gefunden.
Es ist der Opa H., der gelernter Fleischer ist.
Den Schlachtort zu finden ist allerdings schon schwieriger. Man kommt mit
unserer Hauswirtin überein, deren Waschküche für die Schlachtung zu
benutzen. Das hat zur Folge, dass die Zahl der Mitwisser nicht gerade
geringer wird.
Der zu dieser Zeit noch im Hause wohnende Herr T. ist zwangsläufig
eingeweiht. Ansonsten verläuft die Schlachtung in der Nacht plangemäß, und
jeder der aktiv Tätigen erhält den ihm zustehenden Anteil.
Der Wohlgeruch, der sich bei diesem Unternehmen auftut, ist auch in der
Nachbarschaft nicht ganz verborgen geblieben.
Es dauert gar nicht lange, als die Hauptbeteiligten, nämlich mein Opa und
die Familie Helm, vom Gericht in Lüchow eine Gerichtsvorladung erhalten.
Niemand weiß zu diesem Zeitpunkt, wer uns verraten hat.
Es kommt zur Verhandlung.
Opa H. wird vorgeworfen, als Hauptbeteiligter das Schwein geschlachtet zu
haben.
Der Sohn vom alten H. führt seinen Vater an der Hand in den Gerichtssaal und
zeigt damit dem Richter, dass dieser Mann völlig blind ist und nie in der
Lage wäre, eine Schlachtung vorzunehmen.
Opa H. unterstützt diese Behauptung durch seinen wackeligen unsicheren Gang
vor dem Hüter des Gesetzes.
Die Tat wird von allen bestritten, doch es hilft nichts, unser Opa wird
ebenso wie die anderen verurteilt, einige Tage in Lüchow abzusitzen.
Als er dann an seinem Termin nach Lüchow abreist, sitzen Oma und meine
Mutter zerknirscht zu Hause herum und lassen sich von T. durch
Mundharmonikaspiel aufheitern. Es dauert nicht lange, als Opa wieder durch
die Türe hereinspaziert.
Kaum in Lüchow angekommen, so berichtet er, ließ man ihn wieder laufen, weil
die Gefängnisse alle überbesetzt seien. Zufrieden fährt er also wieder nach
Hause.
Da kommt bei uns sofort gute Laune auf.
Eine spätere Belehrung, zu der er von einem Richter vorgeladen wurde, ging dann so
aus, dass der Richter meinte, er möge ihm beim nächsten
Mal etwas von dem schwarzgeschlachteten Schwein mitbringen.
Dann durfte Opa ohne weiteres wieder nach Hause gehen.
Als sich später herausstellt, dass der Petzer bei der Polizei der ehrenwerte
Herr T. gewesen ist, hatte dieser sich schon lange aus dem Staub gemacht.
Seine paar armseligen zurückgebliebenen Klamotten holte er auch nicht mehr
ab.
M. W. hatte für diesen Fall die Forke hinter die Tür gestellt, um ihm im
Fall seines Erscheinens damit eine überzuziehen.
Der Sommer 1945 ist, nach dem strengen
Winter, den wir auf der Flucht erlebt haben, sehr sonnenreich und
warm.
Wir haben nach der Schule viel Zeit, um baden zu gehen.
Es sind zwar keine Seen vorhanden, dafür liegen die Bracks nicht weit
von uns entfernt.
Soll der Weg kurz sein, wird das Brack von K. angesteuert. Es ist
kreisrund und mit seinen etwa 25 Metern Durchmesser nicht gerade groß.
Dafür fällt der Boden am Rand sehr steil ab.
Das Gewässer hat eine respektable Wassertiefe. Besonders
Nichtschwimmer müssen darauf achten. Das Brack soll etwa 15 Meter tief
sein.
Mir ist das Schwimmen in diesem Teich immer etwas unheimlich.
Die bessere Badegelegenheit ist das größte Brack in der Nähe kurz vor
Dannenberg. Es ist inoffiziell die Dannenberger Badeanstalt und in
zehn Minuten zu erreichen.
Wir verbringen nach der Schule viele Tage am Wasser. Meine Fähigkeiten
im Schwimmen nehmen von Tag zu Tag zu.
Dann gibt es da noch die Jeetzel, die aber nicht an allen Stellen
wegen der Wassertiefe zum Schwimmen geeignet ist.
Der Lehrer Schaal, der uns Sportunterricht erteilt, will eines Tages
eine Freischwimmerprüfung vornehmen. Wir laufen die Jeetzel Richtung
Süden entlang, bis wir eine einigermaßen geeignete Badestelle finden.
Die Schwimmer werden ins Wasser gescheucht und die Zeit wird genommen.
Schon bald entdecke ich einige Stellen im Fluss, die leicht mit den
Füßen zu erreichen sind. Ab und zu wird diese Tatsache etwas genutzt,
um das 'Schwimmen' zu erleichtern. Seitdem besitze ich das
Freischwimmerzeugnis.
Ich werde es später auch legal verdient haben.
Der Nachbar K. hat einen landwirtschaftlichen Gehilfen, hier Knecht
genannt.
Er heißt Erwin, hat durch Kriegsereignisse seine Eltern verloren und
ist noch keine 20 Jahre alt. Er hat es sehr gut bei dieser Familie und
wird fast wie ein Sohn gehalten. Sein Kennzeichen ist eine grüne
Schiebermütze, die auf seinem Kopf angewachsen scheint.
Er steht eines Tages an der Straße und zeigt uns Kindern einen Uhu,
den er auf dem Dachboden des Bauernhofs gefunden hat. Der Vogel muß
noch sehr jung sein, denn er ist anscheinend handzahm.
Wir stehen vor Erwin und haben solch einen Uhu noch nie gesehen. Erwin
kommt uns wie ein Dompteur vor.
Er ist bei uns Kindern sehr beliebt, weil er immer freundlich ist und
viel lacht.
K. besitzt ein Feld in der Nähe der Elbe, und wenn Erwin bei der
Arbeit so richtig geschwitzt hat, geht er danach in der Elbe baden. Er
kann nicht schwimmen, deshalb sind für ihn diese Abkühlungen nicht
ungefährlich.
Nach einem schönen Sommertag erfahren wir, dass Erwin in der Elbe
ertrunken ist. Wir sind alle sehr traurig darüber, besonders die
Familie K. hat es sehr getroffen. Offensichtlich hatten sie Erwin nach
dieser kurzen Zeit sehr ins Herz geschlossen. Seitdem haben wir vor
der Elbe großen Respekt, und sie kommt für uns als Badegelegenheit nun
erst recht nicht in Frage.
Die Herbsttage sind nun bald eingekehrt.
Die Kornfelder, die mit Kornblumen so geschmückt sind, dass die blaue
Farbe in dem goldenen Gelb der reifen Ähren fast dominiert, werden
bald abgemäht.
Die Tanzveranstaltungen sind die einzige
Abwechslung in dieser dörflichen Umgebung.
Das Tanzen wird hier besonders großgeschrieben. Schon die Kinder ab
zehn Jahren gehen regelmäßig zum Kindertanz. Der ist fast schon
Pflicht, und es kommt mir so vor, dass den Protestanten hier dieses
Vergnügen wichtiger als Konfirmation oder Taufe ist.
Ich soll mich auch diesem Spaß hingeben, kann mich jedoch bis jetzt
davor drücken. Da müsste man mich schon fesseln und mit Gewalt
hinbringen.
In der Nähe wohnt der Bauer B.
Seine Frau stammt aus dem Wendland, einer Gegend um Lüchow herum, in
der ganze Dörfer mit Wenden besiedelt worden sind. Sie ist recht groß
und sehr hager und bekannt dafür, viel und hart zu arbeiten. Diese
Leute sind einigen Nebenstedtern nicht ganz geheuer. Sie glauben, allen
Wendländern nicht ganz trauen zu können.
Vielleicht liegt das auch an ihrer besonderen Sprache. Wenn sie mit
ihren Verwandten wendländisch spricht, kann sie angeblich niemand
verstehen.
Der Winter 1946/47 ist angebrochen. Er
erinnert uns mit seiner Strenge an Ostpreußen. Plötzlich kommen sehr
harte Frosttage und überraschen die Bevölkerung mit nicht
vorhersehbaren Kältegraden. Sowohl Einheimische als auch Flüchtlinge
werden diesmal davon betroffen. Man hat nämlich nicht berücksichtigt,
dass die Kartoffelmieten zu wenig gegen Frost isoliert wurden. Zu tief
darf eine Miete nicht werden, weil das Grundwasser im Frühjahr schnell
die Kartoffeln erreichen kann.
Aber auch die Aufschüttungen waren bei vielen Mieten zu gering, so
dass die Kartoffeln durch den Frost ungenießbar geworden sind. 40
Zentimeter Erde auf der Miete, von denen man glaubte, sie würden
reichen, sind zu wenig. Die Kartoffeln schmecken widerlich süß und
niemand außer den Schweinen will sie essen.
Auch wir sind von dieser Misere betroffen, denn alle unsere Kartoffeln
sind verdorben. Die Kartoffel ist aber nun zu dieser Zeit unser
Hauptnahrungsmittel.
Als Frau K. dieses erfährt, bietet sie uns an, unsere Kartoffeln gegen
gute Exemplare zu tauschen. Sie sagt, den Schweinen, denen sie alle
verfüttern will, wäre es sowieso egal, was sie fräßen. Sie habe noch
genügend gute Kartoffeln.
Nun gehe ich regelmäßig zum Kartoffeltauschen zu K. Die gefrorenen
Exemplare tauen wir vorher nicht auf, weil sie dann zermatschen. Wir
finden die angebotene Umtauschaktion sehr nobel von ihr.
Bei diesem Frost ist das Heizen mit dem Ofen nicht mehr sehr effektiv.
Der kalte Ostwind pfeift über Bs. freies Feld direkt auf unser
ungeschütztes Haus und durch die nicht sehr dichten Wände.
Wenn wir Schulkinder am Morgen nach
Dannenberg zur Schule gehen, können wir ein seltsames Schauspiel
erleben. Wir bleiben an der Jeetzelbrücke stehen und sehen, wie der
Fluss rückwärts in Richtung Quelle fließt. |