"Die Bewältigung der ca. vier Kilometer langen Strecke
zwischen Elbholz und Quarnstedt erfordert selbst bei stramm
vorgelegtem Tempo die Zeit von ungefähr 45 Minuten. Auf Höhe der
südlichen Schaugrabenbrücke angekommen vernehmen wir trotz Ratterns
der Handwagenräder Schüsse von Handfeuerwaffen aus Richtung
Meetschow-Gorleben. Wir halten und lauschen. Da steigen drüben bei
Gorleben Leuchtkugeln auf, rot und grün. Als die dann zu Boden
geschwebt sind, ist alles wieder still.
Ich blicke den Sani fragend an und der antwortet bedächtig „Es kann
ein blinder Alarm gewesen sein. Da drüben liegt die Nachbareinheit.
Vielleicht ist ein feindlicher Spähtrupp beschossen worden. Möglich
wäre es. Das ist aber insofern nicht verständlich, weil der
bevorstehende Angriff der Amis von Südosten her erwartet wird! "
Aufmerksam beobachte ich den Sani, hänge an seinen Lippen. Wegen
eigener Unerfahrenheit muß man eine Bezugsperson haben. Er ist meine
Bezugsperson. Erstmal machen wir eine Ruhepause. Knabbern fades
Knäckebrot. Mit seinem Taschenmesser zerteilt er dann Trockenmarmelade
in kleine Riegel, die wie Bonbons aufgelutscht werden. Wir lehnen mit
den Rücken an den Panzerminen mit Blickrichtung Gorleben und jeder
knabbert oder lutscht vor sich hin. ... "
Am nächsten Tag (20. April 1945) morgens berichtete mir Sani-Paul auf
meine Nachfrage, ihm sei erzählt worden, da drüben bei der
Nachbareinheit seien drei mit Pistolen bewaffnete Polen von den Posten
aufgegriffen, als sie aus dem Wald kamen. Sie hätten amerikanische
Zigaretten und Verpflegung bei sich gehabt. Sie seien dann sofort
erschossen worden. Wollten wohl abhauen, ausbrechen, stiften gehen und
seien „auf der Flucht erschossen!"
Aus dem Tagebuch von Hannemann (19. April 1945) :
„ Gemeldet wurde, es laufen Spione für die Amis in der Gegend herum.
Ich fahre mit Krad nach Laasche und suche nach den vermeintlichen
Spionen. Ohne Erfolg. Erst am nächsten Tag werden drei bewaffnete
Spione (Polen) geschnappt und erschossen. Sie kamen offenbar vom
Forsthaus Wirl und hatten außer deutschen Pistolen amerikanische
Zigaretten und Verpflegung bei sich. ... "
Aus: Kriegsende im Wendland. Band I
"Gerade als ich gegen Abend von der Kartoffelmiete komme und durch
das Nordtor zum Gutshof Quarnstedt zurückkehre, lehnt der Gartower
Bürgermeister Theo Beyer sein Fahrrad unter dem Bürofenster an die
Hauswand. Bin völlig verblüfft, weil er seit Sonntag der erste
Gartower Besucher auf dem Gutshof ist. Hat keine nassen Hosenbeine,
also kann er nur beim Schlosspark über die sogenannte „ Englische
Brücke" gekommen sein. Sonst hätte er die Seege durchwaten müssen und
hätte nasse Beine gehabt.
Der Bürgermeister scheint sehr bedrückt und nervös, nickt mir zur
Begrüßung nur kurz zu. Gemeinsam betreten wir das Büro. Vater sitzt am
Telefon und blickt überrascht auf.
(Erstaunlich ist die Tatsache, dass die Telefonleitungen nach dem
Großbrand nicht unterbrochen worden sind, obwohl die Telefonmasten
teilweise verbrannten und die Leitungen am Boden hingen! Vater
versucht täglich, telefonische Verbindung zu den Nachbardörfern zu halten.)
Grußlos stößt Theo Beyer hervor: Otto hilf mir! Sie suchen mich! Otto,
ich muss mich irgendwo verstecken! Der Leutnant und die Soldaten wollen mich an die Wand stellen! "
„Nun beruhige dich erstmal! Warum will man dich an die Wand stellen?"
Stotternd und sehr hastig berichtet Bürgermeister Beyer, er habe heute
Mittag Gartow den Amerikanern übergeben müssen. Die Amis hätten seine
Unterschrift zur Übergabe von Gartow verlangt. Sie hätten auch
verlangt, dass sofort an jedem Haus eine weiße Fahne anzubringen sei.
Vater ist offensichtlich erschüttert.
„Menschenskind Theo, hast du etwa eine Kapitulationsurkunde
unterschrieben?"
Was hätte er denn anderes tun können, er sei doch von den Amis dazu
gezwungen worden, sagt Beyer hilflos.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen, Theo? Du weißt doch, was
weiße Fahnen bedeuten!"
Natürlich wisse er das, aber kein Mensch habe
ahnen können, dass die Amis s aus Gartow gleich wieder abziehen,
rechtfertigt sich Beyer.
„Die hatten Gartow besetzt und sind nun wieder verschwunden?", will
Vater bestätigt haben. Richtig, aber gleich darauf seien deutsche
Soldaten von der Springstraße in die Telschow-Straße nachgerückt. Sie
hätten wütend alle weißen Tücher herunter gerissen. Ein Mann aus der
Springstraße sei mit dem Fahrrad zu ihm gekommen und habe ihn gewarnt,
dass die Soldaten ihn suchen. Daraufhin sei er sofort abgehauen.
Atemlos vor Aufregung keucht Theo Beyer: „Ich muss mich verstecken!
Otto, hilf mir! Die stellen mich sonst an die Wand! " Unser
Bürgermeister scheint mit seinen Nerven am Ende zu sein. Ich weiß,
dass Vater seinen Freund Theo nicht im Stich lassen wird. Weiß auch,
dass sich Vater damit selbst in Lebensgefahr bringt, wenn er ihm
hilft. Aber darüber hinaus weiß ich, dass ein Dritter weder von den
Beratungen noch von dem vorgesehenen Versteck Kenntnis haben darf. Nur
dann kann er nie in Verlegenheit kommen, das Versteck zu verraten.
(Woher ich das mit meinen 12 Jahren weiß? Nach dem 20. Juli 1944, als
das große Denunzieren in unserem 'Großdeutschland' begann, da hat es
mir Vater genau erklärt.)
Um die Beratungen der Freunde nicht mithören zu müssen, verlasse ich
unverzüglich das Haus. Ich werde nie erfahren, wo sich der
Bürgermeister Theo Beyer anschließend versteckt hielt, so dass er von
den Häschern nicht erwischt wurde. "
Aus dem Tagebuch von Hannemann (18. April 1945) :
„... Am Nachmittag Spähtrupp nach
Forsthaus Falkenmoor. Auftrag:
Erschießung des Bürgermeisters von Gartow. Er selbst ist nicht mehr
dort, finden ihn nicht, aber wir nehmen seinen PKW mit. ... "
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