"Am Tage nach dem erschütternden Vorfall mit Willi Jagow,
irgendwann im Laufe des Nachmittags, kommt auf der Dorfstraße ein Mann
auf unseren Hof zu.
Der Besucher geht zielstrebig auf die Zaunpforte zu und ich erkenne
ihn schon von weitem. Es ist der „ KZ-Kapo- Werwolf", der in Kapern
den Bürgermeister Wilhelm Bäthke auf so unmenschliche Weise ermordet
hat. Der am 20. April Förster Klockmanns Vorratskeller in Quarnstedt
ausgeplündert hat. Der Günstling des SS-Untersturmführers. Der, wie er
angab, „sieben Jahre unschuldig für seinen geliebten Führer" hinter
Gittern verbringen mußte! Was will der widerliche Mensch hier in
Lomitz, frage ich mich alarmiert. Mit den Augen verfolge ich ihn. Mit
freundlichem Gesichtsausdruck betritt er den Hof. Geht an den beiden
Amis (die am Zaun mit der hübschen englischsprechenden Bremerin Edith
offenbar verliebt quatschen), und an mir grußlos vorbei und bewegt
sich schnurstracks auf meinen Vater zu, der sich weiter hinten auf dem
Hof bei der Scheune aufhält.
Meine Nerven sind gespannt, in meinem Kopf läuten alle Alarmglocken
Sturm. Mein Alter wird blaß, als er den Mann entdeckt. Sein Gesicht
verrät Verblüffung und Ablehnung. Wenn auch zögernd ergreift Vater
dann doch die zur Begrüßung ausgestreckte Hand des unwillkommenen
Besuchers.
Ich bleibe 10 Schritte hinter dem Ankömmling stehen und weiß nicht,
was ich unternehmen soll. Da läuft ein Mörder frei und ungehindert in
der Gegend herum! Was soll ich tun, was kann ich unternehmen?
Argwöhnisch beobachte ich, wie der „ Werwolf" auf Vater leise
einredet. Es ist nicht zu verstehen worüber gesprochen wird, aber
anscheinend will er Vater nicht ans Leder. Aus den Augenwinkeln
beobachte ich die anderen Hofbewohner. Alle verhalten sich sehr
beschäftigt. Das ist sehr ungewöhnlich, denn üblicherweise ist jeder
Besucher auf dem Hof im Handumdrehen von 10 bis 20 Leuten umringt.
Keiner spricht laut. Und ich fühle, daß alle Erwachsenen in kürzester
Zeit informiert sind : „Ein Werwolf ist da! Vorsicht!" ... ... Als der
Werwolf sagt, er müsse Vater etwas fragen, und die beiden daraufhin in
die Scheune gehen, schließe ich mich ihnen schnell an. Etwa eine
Sekunde lang blickt mich der KZ-Kapo- Werwolf prüfend an, dann darf
ich mich anschließen.
In unserer Unterkunft in der Scheune am Strohlager stehend läßt er die
Katze aus dem Sack. Er will den jetzigen Aufenthaltsort des Gartower
Bürgermeisters Beyer wissen. Mein Vater versichert ihm glaubhaft, er
wisse nicht, wo sich Bürgermeister Beyer aufhält. Was er denn von dem
Bürgermeister wolle, fragt Vater.
Der sei zum Tode verurteilt, weil er gegen das Kapitulationsverbot
verstoßen habe.
Der habe Gartow dem Feind übergeben. Deshalb müsse er als
Volksverräter liquidiert werden. Anscheinend nicht nur mir sondern
auch Vater stockt der Atem. ...
(Gottseidank weiß der KZ-Kapo-Werwolf nicht, daß Theo Beyer einer der
engsten Freunde meines Vaters Otto Schwerdtfeger ist!)
... Aber ohne Pause fragt der unsymphatische Werwolf nach den jetzigen
Aufenthaltsorten von zwei weiteren Männern und einer Frau aus Gartow.
Vater tut so, als überlege er angestrengt. Er wisse nicht, in welches
Dorf die evakuiert worden seien. In Lomitz befänden sie sich
jedenfalls nicht, lügt Vater ihn glaubhaft an. ...
... Was die denn 'verbrochen ' haben, möchte mein Alter Herr wissen.
Der Werwolf zählt auf : Sabotage durch Behinderung unserer kämpfenden
Truppe, Hissen weißer Fahnen, Mißachtung militärischer Befehle,
Wehrkraftzersetzung durch Aufforderung zur Kapitulation. Alle
Volksverräter würden auch im vom Feinde besetzten Gebiet aufgespürt,
gefunden und dann erledigt!
Mir wird fast übel und Vater scheint es die Sprache verschlagen zu
haben. Die Gedanken rasen mir durch den Kopf. Die beiden gesuchten
Männer wohnen in der Hahnenberger Straße in Gartow und die Frau wohnt
in der Telschow-Straße. Mein Alter wird sie alle drei gut kennen. Ich
werde überhaupt nicht gefragt. Von mir hätte der Mensch nichts
erfahren, selbst wenn ich gewußt hätte, wo sich die von ihm gesuchten
Personen aufhielten. Wußte ich aber nicht!
... Kurz darauf spaziert der Werwolf lässig über den Hof, an den
beiden Amerikanern vorbei auf die Dorfstraße und geht in Richtung
Prezelle davon.
... Man muß sich die Situation mal vorstellen:
Da wissen mindestens 150 Leute in Lomitz (wahrscheinlich noch weitaus
mehr), daß sich ein Werwolf, ein Mörder, im Dorf befindet. Aber weder
Deutsche noch Ausländer zeigen den bei der Ami-Kommandantur an, um ihn
aus dem Verkehr ziehen zu lassen! Wenn jemand den Verbrecher anzeigen
würde, dann würde ich keinen Finger rühren, um das zu verhindern. Aber
selbst würde ich keinen Werwolf an den Feind verraten, denn das wäre
ja dann Verrat an Deutschland!
Sogar diesen mir höchst unsymphatischen Menschen, der für uns alle so
gefährlich werden kann, würde ich nicht verpfeifen....
... Ich denke, diese Angelegenheit müssen wir Deutsche später selbst
ins Reine bringen.
Die Amis haben damit nichts zu tun. Ich werde das Gesicht unter
tausenden wiedererkennen und bin zu diesem Zeitpunkt überzeugt, daß
dieser gefährliche Mensch später einmal vor ein deutsches Gericht
gestellt werden wird. Welch eine Illusion!...
... Ich möchte mal behaupten, daß dieses gestrige
menschenlebenverachtende Abknallen unseres Melkers Willi Jagow, der
vielleicht nur fünf Minuten nach der Ausgangssperre von der Kuhkoppel
heimkam, jeden Lomitzer davon abhält, zu den Amerikanern zu gehen, um
den Werwolf anzuzeigen. ... Eine tiefe Abneigung von den Dorfbewohnern
und von uns Zwangsevakuierten , Deutsche wie Ausländer, gegen die
überheblichen amerikanischen Sieger ist durch die gestrige Bluttat
entstanden!
Alle verhalten sich deshalb reserviert bis feindlich gegenüber den
amerikanischen Soldaten.... ..
Fazit:
Bürgermeister Theo Beyer befand sich seit dem 17. April 1945 (als er
für Gartow die Kapitulationsurkunde unterschreiben mußte) bis zum
Waffenstillstand am 8. Mai 1945 ständig in Lebensgefahr. Er mußte drei
Wochen lang versteckt bleiben und hat gottseidank überlebt.
Aufenthaltsorte der zwei in der Hahnenberger Straße wohnenden Gartower
sowie der in der Telschow-Straße wohnenden Frau wurden offenbar dem
KZ-Kapo-Werwolf nicht verraten. Vielleicht wußten diese drei nicht
einmal, in welcher Lebensgefahr durch ihre unbedachten Äußerungen sie
sich befanden. Möglicherweise erfuhren sie das auch nicht einmal nach
dem Kriegsende.
Die drei bewaffneten Polen, die am 19. April 1945 aus dem Walde
kommend dann als Spione erschossen wurden, wohnten in Meetschow. Damit
befand sich der Bürgermeister von Meetschow ebenfalls in Lebensgefahr,
weil er ja das Wohlverhalten seiner Ausländer hatte garantieren
müssen.(„Sie haften mit Ihrem Kopf, falls Ihre Ausländer dummes Zeug
machen sollten!") Er wurde aber meines Wissens zu seinem Glück nicht
angeklagt oder zur Rechenschaft gezogen.
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