Der Geist der Weihnacht (1963)

Wir wussten zwar, dass Inge und ihre beiden Brüder Rudi und Horst nicht viel Spielzeug besaßen, aber wir machten uns nie lustig über sie. Ansonsten maßen wir die Qualität der Spielkameraden allzu leicht an dem Inhalt der Spielzeugkiste, aber Inge beneideten wir richtig um ihre größeren Brüder, die immer füreinander einstanden und Züge wie Boshaftigkeit und Streitsucht nicht zu kennen schienen.
In den wärmeren Monaten kamen wir ohnehin ohne gekauftes Spielzeug aus. Wir trafen uns, ohne große Verabredungen zu treffen, auf dem Dorfplatz und spielten, je nach Alterszusammensetzung, Verstecken, Räuber und Gendarm (was wir später Cowboy und Indianer nannten), Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser?, Hopse, Land klauen oder Kippel-Kappel. Joachim, genannt Stachel, der immer sehr sorgfältig war, schnitzte sich meist die schönsten, sie liefen an beiden Enden nadelspitz zu und wurden, durch die Luft geschlagen, zu gefährlichen Geschossen, was für uns aber nur ein zusätzlicher Nervenkitzel bedeutete.
Als ich wenig später Hubert aus Breese im Bruch kennen lernte, sah ich das mit dem Kitzel plötzlich anders: Er hatte so ein Ding ins Auge bekommen und war fast daran erblindet.
Aus den einfachsten Mitteln entstanden immer wieder neue Spielideen. Die Mädchen formten in Windeseile mit Wollfäden komplizierteste Muster zwischen ihren Fingern, andere wurden regelrechte Champions im Gummi-Twist. Nach dem Gewinn der Fußball-WM 1954 stand dieser Sport bei den Jungen besonders hoch im Kurs. Und da es natürlich noch keine Bolzplätze gab, verhalfen unzählige Querpässe und Flanken von Helmut Rahn, Fritz Walter oder später Uwe Seeler so manchem Gartengemüse zur vorzeitigen Ernte und so manchem aufkeimenden Gladiolenleben wurde ein zu frühes Ende beschert. Die Erwachsenen reagierten auf diese Art von Vandalismus unterschiedlich, besonders vor Frau Kilianowitsch musste man sich aber in Acht nehmen. Eduard wusste zu berichten, er habe mit eigenen Augen gesehen, dass Frau K. anlässlich eines minderschweren Vorfalls zum Gartenschlauch gegriffen und mittels eines scharfen Strahls unmissverständlich für Ordnung gesorgt habe.
Im Herbst bastelten wir uns Drachen, die zwar selten aufstiegen, uns auf den Stoppelfeldern aber gehörig auf Trab hielten. War im Dorf mal wieder dicke Luft - warum mussten Sonnenblumen aber auch so schnell umknicken? - zogen wir uns in den Wald zurück, bauten Höhlen, Fallgruben und Baumhäuser, gründeten Banden, die sich untereinander ausspionieren und bekämpfen sollten, oder wir sicherten unser Dorf vor dem unbekannten Eindringling, der Bande des Nachbardorfes, die aber nie kam.. In solchen Zeiten verstanden wir überhaupt nicht, was die Kinder in Lüchow oder Dannenberg eigentlich den ganzen Tag über tun konnten. Wir kannten die Städte entweder von Schützenfesten oder von Markttagen und wir hatten den Eindruck eines Ameisenhaufens bekommen, in dem kein Platz für Leute wie uns war.
Bei "Deckel hoch, der Kaffee kocht", „Der Plumpsack geht rum“ oder "Mein Vater hat ein Schwein geschlachtet – was willst Du davon haben?“ gab es keine Unterschiede zwischen den Kindern, jedes Spiel erforderte andere Spezialisten und jeder hatte irgendwo seine Chance, die er grundsätzlich auch nutzte.
In der Vorweihnachtszeit verschoben sich diese Werte merklich. Anfang Dezember wurden in der Schule die Wunschzettel geschrieben, Lehrer B. wachte über die saubere formale Ausführung, der Inhalt war es aber, der uns interessierte. Würde Reinhold seinen Fernlenkporsche bekommen? Würde es diesmal klappen mit dem Puppenherd für Sigrid? Würde Inge endlich Glück haben und die Echthaarpuppe unter dem Weihnachtsbaum finden, die schon letztes Jahr auf ihrem Wunschzettel auftauchte, damals noch gezeichnet?
Und was war mit meiner Lego-Dachausrüstung? Hatte ich nicht viel zu lange treppenartige Dächer gefertigt?
Zu Nikolaus mussten die Wunschzettel fertig sein, dann kamen sie in die eigenhändig geputzten Schuhe und waren am nächsten Morgen verschwunden. An den Weihnachtsmann glaubte man als großes Schulkind eh nicht mehr, dafür hatten schon die Älteren gesorgt.
Keiner hatte vergessen, als letzten Punkt den "bunten Teller" aufzuführen. Einmal im Jahr einen ganzen Teller mit Leckereien für sich allein haben! Es waren immer Nüsse darauf, Marzipankartoffeln, Baumbehang mit Melba-Füllung (das mochte eigentlich niemand) und Apfelsinen. Ab und an verirrte sich schon mal eine Mandel oder eine Mandarine auf den bunten Teller - aber das waren Ausnahmen.
Nach den Weihnachtsferien kam die Stunde der Wahrheit. Lehrer B. forderte uns auf, jeder solle nach Hause gehen und sein liebstes Weihnachtsgeschenk holen (meine Mutter argwöhnte in solchen Fällen immer, das geschähe aus purer Neugier). Wir schwärmten also aus und überlegten uns, welche Trophäe wir vorzeigen konnten. Ich hatte ein Kaspertheater bekommen, das konnte ich unmöglich alleine transportieren - leider. In meiner Verzweiflung griff ich zu einem albernen Buch, in dem ein Dackel einen Topf Farbe umwirft und deswegen schlimmen Ärger bekommt. Meine Mutter erzählte mir später übrigens ganz nebenbei, dass Dennstedt in Dannenberg keine Legobausteine mehr hatte und sie es nicht geschafft hätte, nach Lüchow zu Hettig zu fahren. Das Dackelbuch konnte natürlich gegen den Fernlenkporsche nichts ausrichten, aber zu meinem Erstaunen versammelten sich später im Schulzimmer so allerlei Sachen, die auch nicht auf den Wunschzetteln erschienen waren.
Dass Inge die ersehnte Puppe noch immer nicht bekommen hatte erwies sich als folgenschwer. Sie besaß zwar eine Babypuppe mit aufgemalten Haaren, aber es war in Mode gekommen, die Puppen zu frisieren, ihnen Zöpfe, Schnecken und Pferdeschwänze zu verpassen. Belastbar waren die Puppenköpfe allerdings nicht, es handelte sich zwar überwiegend um echtes Haar, aber die Perücken verloren im Laufe der Zeit einiges an Substanz und bald galt die Hauptsorge der Puppenmütter, die kahlen Stellen zu kaschieren. Und beim Friseur Birke eine neue Perücke zu bestellen…das wäre ja schon der Weihnachtswunsch fürs nächste Jahr.
Ich kann mich nicht erinnern, dass Inge jemals öffentlich über ihre Lage geklagt hätte, aber wir mussten schließlich erkennen, welche Auswirkungen solch ein Herzenswunsch haben konnte.
Die Tage waren inzwischen wieder normal geworden. Die Jungen stritten nicht mehr darüber, ob nun die Märklin- oder die Trix-Express Modelleisenbahn die bessere sei, sie bastelten keine Fallerhäuser mehr und ließen die Autoquartette wieder in den Schubladen verschwinden. Die Mädchen warteten mit neuen Zickzackgummis aus Mutters ausrangierten Liebestötern auf, sie trugen wieder Kniestrümpfe, schoben zwar stolz ihre Puppenwagen zum Dorfplatz, vergaßen aber schnell ihre Fürsorgepflicht und tobten wie eh und je. Die Großen, die schon nach Dannenberg zur Schule fahren mussten, brachten neue Spielideen mit und alle hatten Frau Kilianowitsch im Auge, die vermutlich einen neue Waffe hatte, da der Schlauch ja noch nicht angeschlossen war.
Irgendjemand kam plötzlich aufgeregt angelaufen und fragte uns, ob wir schon Horst gesehen hätten. Nachdem wir verneinten, erfuhren wir, dass er sich alleine die Haare geschnitten habe und nun ganz fürchterlich aussehe, "Treppen und so...".
Als wir Inge fragen wollten, warum ihr Bruder das getan habe, bemerkten wir erst, dass sie gar nicht da war und sie an dem Nachmittag noch niemand gesehen habe. Franziska, die nebenan wohnte, verriet uns später sämtliche Hintergründe:
Inge hatte die Puppenmütter mit ihren Wagen gesehen und ihrem Bruder (wer weiß zum wievielten Male?) ihr Herz ausgeschüttet. Horst griff kurzerhand zur Schere, schnitt sich die Haare ab, die bei einer Jungen-Frisur der damaligen Zeit überhaupt greifbar waren, und sammelte die Strähnen sorgsam auf. Er nahm Alleskleber und versuchte verzweifelt, dem Zelluloidbaby eine Perücke zu kleben. Das Ergebnis muss verheerend gewesen sein. Die Haare waren alle miteinander verklebt und der aggressive Leim löste die Hautfarbe des Puppenkopfes auf.
Da war nun der Bruder, bereit, ein Stück seiner selbst zu opfern, um die kleine Schwester glücklich zu machen. Und da war Inge, mit einer Puppe, die eigentlich so schön hätte werden sollen und nun gänzlich unansehnlich geworden war.
Und da waren wir, die wir wieder nicht lachen konnten, weder über Horst noch über Inges Puppe. Jeder fragte sich wohl in diesem Moment, welcher andere Bruder, welche andere Schwester so etwas getan hätte.
An diesen Vorfall erinnerte uns noch viele Tage der kahle Kopf von Horst - aber er trug ihn mit Würde.
Michael Huber

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